Philip Roth: Der Erforscher der dunklen Ecken eines goldenen Zeitalters
Der große amerikanische Autor starb mit 85 Jahren
Die Legende von Philip Roth war so groß geworden, dass es fast ein Schock war, daran erinnert zu werden, dass er bis Dienstag dieser Woche noch ein lebender Schriftsteller war. Er war ein weltweit gefeierter Autor, der von der New York Times als „der letzte der großen weißen Männer“ gefeiert wurde. Sein Platz war neben Saul Bellow und John Updike. Weit davon entfernt, selbst mit dieser Einschätzung zu kokettieren, erklärte er einmal:
„Updike und Bellow halten ihre Taschenlampen in die Welt hinaus und enthüllen die Welt, wie sie heute ist. Ich aber muss ein Loch graben und leuchte mit meiner Taschenlampe ins Loch. „
Dennoch ist es unmöglich, Roth zu lesen, ohne das überwältigende Selbstvertrauen, den Überschwang und das Gefühl unendlicher Möglichkeiten zu spüren, das das Amerika der Nachkriegszeit zu versprechen schien. Geboren 1933, gehörte Roth zu einer Generation, die gerade erwachsen wurde, als die USA einen Weltkrieg gewonnen hatten, mit Reichtum gesegnet wurden und die Nummer eins auf dem Planeten waren. In seiner “ Amerikanischen Trilogie“ – American Pastoral, verwandelte er sich beinahe in einen echten Kommunisten und als er weit in seinen 60ern war, erforschte er die dunkleren Ecken dieses angeblichen goldenen Zeitalters. Damals schien es, als wäre ein Amerikaner der Hauptgewinner in der Lotterie des Lebens.
Trotz allem war und blieb Roth immer wieder umgetrieben von der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft, die er treffend wie keiner vor oder nach ihm so überdeutlich gezeichnet hatte. Aber die ständigen Kollisionen und der Streit zwischen Literatur und den bestürzenden, realen Ereignissen im Amerika seiner Epoche verärgerten Roth zunehmend, je älter er wurde, und trieben ihn an.
Im Jahr 1961, in Writing American Fiction, beklagte er, dass
„die heutige Aktualität ständig unsere Talente überfordert, und unsere Kultur präsentiert uns tagtäglich Fakten und Ereignisse, die jeden Romancier vor Neid erblassen lassen“.
Doch mindestens einmal war Roth der Wirklichkeit voraus. Sein Roman 2004, der Anschlag gegen Amerika, fragte was, wenn? Frage. Was wäre, wenn Amerika dem Faschismus erlegen wäre, verführt von einem Prominenten und Medienstar in Form des Fliegers Charles Lindbergh?
Der Roman ist eine dunkle Vorstellung davon, wie Roths eigene Familie nach und nach von der Bedrohung durch einen antisemitischen Nationalismus umkreist worden wäre und sich vorstellen würde, wer sich gewehrt hätte und wer ein Mitläufer geworden wäre. Dieses Buch war mächtig, dunkel und bedrohlich als es in den USA erschien. Aber im November 2016, als die USA dann tatsächlich einem nationalistischen Demagogen erlegen sind, hatte dieser visionäre Roman seine wahre Kraft gewonnen.
Nicht jeder seiner vielen Romane hat so formidabel gut funktioniert. Seine letzten Bemühungen – kurze Romane, die sich im Grunde genommen um das Leben und Sterben seiner Helden handelt, werden vielleicht nicht mehr oft gelesen werden. Aber Roth war immer ruhelos, innovativ und vor allem ein Schriftsteller exquisiter Prosa. Seine Sätze waren oftmals täuschend einfach und zeigten nur selten irgendwelche Effekthaschereien. In ihrer eigenen Eleganz, Lakonie und Understatement waren sie wahrhaftig und meisterhaft.
Dieser große amerikanische Romanschriftsteller weilt nicht mehr unter uns, aber er hat einige verdammt großartige Romane hinterlassen.
Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur
Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter will mit ihrem 730 Seiten schweren Werk eine Studie zur deutschsprachigen Literaturund ihrer weltweiten Rezeption liefern.liefern. Man kann feststellen, dass das Vorhaben gelungen erscheint. Die Struktur des dicken Buchs ist chronologisch geordnet und sie beginnt ihre Darstellung im 15. Jahrhundert bei Sebastian Brants „Narrenschiff“, kommt zum unvermeidlichen Grimmelshausen und seinem „Simplicissimus“. Sie schreitet kenntnisreich weiter durch die wichtigen Epochen und ihre bedeutendsten Texte und Literauren , von denen manche Werke ihren festen Platz in der Kulturgeschichte der Menschheit gefunden haben. Zu ihnen gehört naturgemäß u.a. auch Lessings „Nathan“.
Untersucht wird aber auch, welchen prägenden Einfluss die anderen bedeutenden Kulturkreise auf die deutschen Denker und Autoren hatten: kultureller Austausch ist bekanntermaßen keine Einbahnstraße.
Etwas zu intensiv widmet sich die Autorin vielleicht dem Einfluss der „Faust“-Dichtung. Mit gebotener Sorgfalt werden aber auch die späteren Zeiten und die bedeutenden Werke bis hinein in die Gegenwart behandelt. Kafka, Heinrich Heine, Fontane, Thomas Mann wie Heinrich Böll und auch Günter Grass seien hier nur stellvertretend erwähnt. Den Leser erwartet ein interessant zu lesender Text und eine Fülle an Informationen.
Sandra Richter – Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur – 728 Seiten – Bertelsmann Verlag – ISBN 978-3-570-10151-3
Gabriele Tergit – Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Berlin zwischen den Kriegen. Man schreibt das Jahr 1929, als ein Lokalreporter einer Berliner Zeitung, immer auf der Suche nach aktuellem Stoff, in einem schummrigen Variete einen Sänger entdeckt, der unter anderem auch gut und gern von der Liebe singt. Der Reporter wittert augenblicklich seine Chance und beschließt, den Mann zum Superstar hochzuschreiben.
Und so nimmt alles Glück und Unglück seinen Lauf, fast wie im richtigen Leben.
Gabriele Tergit, die 1894 als Elise Hirschmann in einer jüdischen Familie zur Welt kam, arbeitete als Gerichtsreporterin beim „Berliner Tageblatt““, was die treffende Schilderung des alltäglichen Wahnsinns in einer Redaktion erklärt. Auch die am Rande des Abgrunds tanzende Berliner Gesellschaft der späten Weimarer Republik wenige Jahre vor der Machtergreifung der Nazis, die Schiebereien und die ganz selbstverständliche , marktschreierische Sensationsmacherei beschreibt sie hellsichtig, atemlos und gerade auch heute wieder gültig. Weshalb ihrem Debüt eigentlich ein Platz neben Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ und Erich Kästner gebührt, wie Nicole Henneberg im Nachwort der nun als Taschenbuch erhältlichen Neuausgabe richtig anmerkt.
Dass dieses gar nicht kleine Meisterwerk der Neuen Sachlichkeit immer wieder in Vergessenheit geriet, liegt auch daran, dass es lange Zeit nicht lieferbar war. So wird Gabriele Tergit, die 1933 – ein Jahr nach Georg Grosz – aus Deutschland fliehen musste und 1982 in London starb, nun schon zum dritten Mal wiederentdeckt.
Amüsant, packend, ein Bild vom Berlin der Weimarer Republik, wie es nur ein Vollblutreporter in dieser Zeit Tag für Tag zu Papier bringen konnte. Der Leser wird es kaum aus der Hand legen wollen.
Gabriele Tergit – Käsebier erobert den Kurfürstendamm – 390 Seiten – btb Taschenbuch – ISBN 978-3-442-71556-5
Einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben…
Seit der österreichische Autor Robert Menasse seine „Trilogie der Entgeisterung“ veröffentlicht hat, nennt man ihn auch gern den Dialektiker unter den deutschsprachigen Schriftstellern. Nun wurde aber die Hegelsche Rechtsphilosophie schon einmal von einem gewissen Karl Marx vom Kopf sehr energisch auf die Beine gestellt, auf die Beine des Proletariats. Diese Dialektik ist nun seit fast zweihundert Jahren nicht nur in der Welt der Philosophie und in den Köpfen der Kritiker, und wenn es denn stimmt, dass die Eule der Minerva erst in den Zeiten der Dämmerung ihren gaukelnden Flug beginnt, dann hat der Autor gut daran getan, sich in diesen Tagen auf den Weg nach Brüssel gemacht zu haben.
Den von Karl Marx herbeigesehnten Weckruf des gallischen Hahns hat man mittlerweile in Berlin deutlich vernehmen können, wenngleich nach einer achtmonatigen Findungsphase auch auf der zugigen Zugspitze nichts Verwertbares gefunden wurde. „Mit der Kälte nimmt die Klarheit zu“ hatte einmal der große Österreicher Thomas Bernhard festgestellt und der österreichische Riese Ludwig Wittgenstein hatte bereits zuvor in Cambridge apodiktisch klargestellt :“Die Welt ist, was der Fall ist“.
Damit war die Philosophie, diese metaphysische Denkschule, wie man sie bis dato kannte und betrieb, zu Ende – wie Marcuse bitter anmerkte. Der Autor Menasse schaute sich also erst einmal gründlich in der europäischen Metropole Brüssel um, seinen Fall kühl und klar an der Basis zu studieren. Selbstverständlich existiert dort auch diese abgehobene, neoliberale Armee der Lobbyisten; Korruption ist kein Fremdwort im gelobten Kontinent Europa, wo der Euro überall wie Milch und Honig fließt.
Aber darum geht es in diesem Buch nur am Rande. Der Stoff, der literarisch brillant und spannend erzählt wird, umkreist den Kern, die Vision von einer besseren Welt, einer besseren Zukunft für die hier versammelten Nationen und beleuchtet Europa als die „große Idee“ und zielt weiter hinaus, als es ökonomische Kennziffern und anderweitige Berechnungen vermögen. Was einmal mit dem Handschlag von de Gaulle und Adenauer begonnen hatte, darf heute nicht im Unterholz der viel beschworenen Sachzwänge verloren gehen.
„Man spricht ja immer von überbordender Bürokratie. Von weltfremden, überbezahlten Beamten, die ohne Kenntnis der Lebensrealität der vielen Völker in Europa sich irgendwas ausdenken, mehr oder weniger aus Langweile sich mit der Gurkenkrümmung beschäftigen. Das ist natürlich alles Unsinn. „
Robert Menasse
Wenn es denn gilt, dass Liebe, Hoffnung und Glaube das Fundament der Religion bilden, so sollten sie wohl auch gut für etwas leichtere Bauwerke geeignet erscheinen. Die Hoffnung auf ein besserer Leben miteinander, die Hoffnung auf einen friedlichen Kontinent, die Hoffnung auf einen im wahrsten Sinne des Wortes befreienden, auch emanzipatorischen Ausweg aus dem Elend zweier verheerender Völkerschlachten war die wahre Geburtshelferin Europas. Diese große Idee behält der Autor im Auge und er fokussiert geradezu darauf, wenn er einem Kapitel voranstellt:
„Ideen stören, was es ohne sie gar nicht gäbe“
Die Philosophie allein jedoch vermag Europa nicht zu retten, und somit spielt auch die Politik eine Rolle in dieser fiktionalen Geschichte. So ist es keineswegs verwunderlich, dass sich der Autor immer wieder intensiv mit der Zukunft Europas beschäftigt hat.
Also ist er nach Brüssel gefahren, um dort für seinen Roman ausgiebig zu recherchieren, der durchaus auch kritisch hinter die Kulissen der EU-Bürokratie schaut. Menasse musste dabei schnell erkennen, dass vor jeder Fiktion behandelt werden muss, was der Fall ist; denn ohne harte Fakten und die Kenntnis der vorgefundenen Realitäten geht es nicht. Er schickte also zunächst einmal den Essay „Der europäische Landbote“ vorweg. Darin wird die EU wesentlich differenzierter und positiver dargestellt als in den zahllosen pessimistischen Polemiken, die ja keineswegs nur von den üblichen Verdächtigen der nationalistischen Rechten vorgetragen werden, sondern mittlerweile auch schon von Autoren wie Hans Magnus Enzensberger wie selbstverständlich publiziert werden. Denken ist erlaubt, Wissen kann nicht schaden, aber wer seinen Hoffnungen vertrauen will, muss warten können.
„Rever, c’est le bonheur; attendre, c’est la vie“. –
Victor Hugo wusste das.
So hat sich dieser Roman in gewisser Weise auch aus dem Geist der Hauptstadt europäischer Politik entwickelt: Es gibt vielfältige Charaktere sowie wichtige und beiläufigere, immer spannungsreich vorgetragene Erzählstränge. Der Leser wird mit einer Mischung aus Ironie, auch Selbstironie , feinem Humor und einem bunten Strauss mehr oder weniger aktueller Alltäglichkeiten beworfen und vermag zu Beginn nur zu erahnen, wie sich aus diesen farbigen Versatzstücken ein tragendes Erzählmosaik bilden soll. Die fein geknüpften Stränge werden aber in imponierender Manier, wie es bei diesem Autor zu erwarten ist, zusammengeführt.
Die vielleicht etwas dekonstruktivistische Struktur des Romans, der keine rein chronologische Erzählstruktur verfolgt, die anfangs auch mit vielen Thesen und Antithesen dem Leser etwas Aufmerksamkeit abverlangt, belohnt aber mit der kenntnisreich vorgetragenen Einsicht, dass die europäische Bürokratie, wie sie heute nun mal in Brüssel der Fall ist nicht nur guten Stoff für Literatur liefern kann, sondern bei aller berechtigter und notwendiger Kritik immer zugleich ein verdammt lebendiges System ist, das sich um die Menschen des vereinten Europa kümmert und die große Idee und die Hoffnung nicht verloren gibt.
“ Man muss nun zeigen, dass die Idee der europäischen Institutionen, die Gründungsidee und auch die tägliche Arbeit von nichtökonomischen Zwängen getragen wird, nämlich als Hüterin der Verträge für die Menschenrechte einstehen und den Nationalismus überwinden muss.“
Robert Menasse
Ein wichtiges und spannungsreiches Buch, gerade in Zeiten der Dämmerung zu lesen.
Robert Menasse – Die Hauptstadt-450 Seiten – Suhrkamp – ISBN 978-3-518-42758-3
John le Carré enthüllt seine Verachtung für die britische politische Klasse
John le Carrés scharfe Verachtung für die britischen Politiker wird in einem ätzenden Brief an einen amerikanischen Freund angezeigt, der zur Versteigerung kommt, bei dem er die Tories, die Liberaldemokraten und die Labour gleichermaßen verachtet .
Der handschriftliche Brief an einen Geburtshelfer aus Maine wurde vom Autor im August 2010 geschrieben, nachdem die konservative Partei bei den Parlamentswahlen keine Mehrheit gefunden hatte und eine Koalition mit den Liberaldemokraten gebildet hatte. Oder wie Le Carré es treffend ausdrückte:
„Die Eton-Leute haben den Laden mit Hilfe einiger unerfahrener Liberaler der zweiten Liga zurückgenommen, die in kurzer Zeit in ihrer eigenen heißen Luft verdampfen werden und den Laden einem Haufen von Ivy-League-Tories überlassen, die wiedergeborene PR-Männer, Sexisten, Anti-Europäer, Nostalgiker und Öko-Spinner sind „
Der Brief an Willard J. Morse schont nicht die Labour Party von damals, die von Le Carré als eine „verschwenderische Regierung“ beschrieben wird, „sie wurde von einem schlechten schottischen Schweinchen (Blair) und einem unglücklichen schottischen Schwein (Brown) geführt, der das Sparschwein der kleinen Leute leerte, während sie dabei waren „.
Le Carré, der sich selbst als „radikaler im Alter als je zuvor“ bezeichnet hat, hat in der Vergangenheit darüber gesprochen, wie begeistert er war, als Labour 1997 gewählt wurde, aber von Tony Blairs Partei schnell desillusioniert wurde. „Wir haben kein einziges Mitglied der Blair-Regierung, das einen öffentlichen Einspruch gegen den ökologischen Ruin erhoben hat, den George W. in den Vereinigten Staaten durchsetzenwird„, sagte er 2001 in einem Interview und fügte hinzu: „Ich dachte, Blair wäre ein Lügner, als er leugnete ein Sozialist zu sein . Das Schlimmste, was ich über ihn sagen kann, ist, dass er die Wahrheit gesagt hat. „
Er endet mit einer Verurteilung des verstorbenen Schriftstellers Christopher Hitchens, den Le Carré als „wirklich verhassten kleinen Zwerg“ oder „was unsere Lehrer früher LMF nannten – niedrige moralische Faser oder Scheiße“ beschreibt. Hitchens war ein lautstarker Befürworter des Irakkrieges, gegen den sich Le Carré bei Antikriegsmärschen und seinem Schreiben im Jahr 2003 gewandt hatte:
„Amerika ist in eine seiner Perioden des historischen Wahnsinns eingetreten, aber das ist das Schlimmste, an das ich mich erinnern kann, schlimmer als McCarthyismus, schlimmer als die Schweinebucht und auf lange Sicht potenziell verheerender als der Vietnamkrieg „.
Während seine neueren Thriller oft zeitgenössische Themen berührt haben – sein 2008 Roman A Most Wanted Man wurde von Kritikern als eine direkte Kritik an US-Präsident George W. Bushs Politik gesehen – Le Carré hat immer davon Abstand genommen hat, Polemiken zu schreiben, und sagte, dass er erkennt, dass seine Leser aufhören werden, seine Romane zu lesen, wenn er zu politisch wird.
„Geschichte und Charakter müssen an erster Stelle stehen. Aber ich bin jetzt so wütend, dass ich eine Menge Zurückhaltung üben muss, um ein lesbares Buch zu produzieren.“
Hier ist eine kurze Geschichte über Michael Ventris, den Mann, der Linear B entziffert hat
Griechenland: Linear B war die Schrift des Agamemnon
Linear B war der Name für eine unlesbare Art von Keilschrift, die erstmals bei Ausgrabungen in Minos auf Kreta von Sir Arthur Evans am Ende des 19. Jahrhunderts gefunden wurde. Evans beurteilte es als Bronzezeitalter und war aus dem einen oder anderen Grund überzeugt, dass die zugrunde liegende Sprache nicht Griechisch war, sondern eine autochthone kretische Kultur, die er mit einem Hauch von Erfindungsreichtum als minoisch bezeichnete. Evans hatte in der großen Tradition der Archäologie des 19. Jahrhunderts eine Zivilisation gefunden (gegründet?).
Das Skript wurde 1952 von Michael Ventris, einem Amateurphilologen und professionellen Architekten, der seit seiner Jugend von dem Problem besessen war, ziemlich geräuschlos ( geheim ?) entziffert. Die Sprache stellte sich schließlich als griechisch heraus. Der Durchbruch zur Entzifferung kam, als er in der Lage war, mit ähnlichen, in Pylos auf dem griechischen Festland im Jahre 1939 vom amerikanischen Archäologen Carl Blegen gefundenen Tontafeln zu vergleichen, in denen bestimmte Symbole von den Knossos-Tafeln fehlten. Ventris vermutete, dass dies kretische Ortsnamen sein könnten, und dies gab ihm den notwendigen Schlüssel.
Ventris, sein Lebenswerk vollendet, starb im Alter von vierunddreißig Jahren bei einem Autounfall, bei dem es sich um Selbstmord gehandelt haben könnte. Er war ein einsamer, isolierter, brillanter junger Mann.
Das hat einer seiner Mitarbeiter, der Archäologe John Chadwick, über ihn gesagt:
„Aber ein bloß fotografisches Gedächtnis war nicht genug, und hier kam ihm sein architektonisches Training zu Hilfe. Das Auge des Architekten sieht in einem Gebäude nicht nur eine Fassade, ein Wirrwarr von ornamentalen und strukturellen Merkmalen; es blickt hinter die Erscheinung und unterscheidet die wesentlichen Teile des Musters, die strukturellen Elemente und den Rahmen des Gebäudes.
Auch Ventris konnte zwischen der verwirrenden Vielfalt der mysteriösen Zeichen, Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen, die die zugrunde liegende Struktur verrieten. Es ist diese Qualität, die es ermöglicht, Ordnung in scheinbarer Verwirrung zu sehen und die die Arbeit aller großen Männer geprägt hat.“
Das Buch: John Chadwick, Die Entschlüsselung von Linear B , CUP 1958
Was an der Entzifferung des linearen B-Code schön ist, ist, als wie relativ geschichtslos sich alles am Ende herausstellte . Als Ventris die Linear B-Tafeln aus Knossos und Pylos entschlüsselte, stellte sich heraus, dass es tatsächlich keine Geschichte darauf zu lesen gab. Was sie in der Hand hatten, waren buchhalterische Aufzeichnungen über Steuern, Wehrpflicht und Getreidevorräte.
Wenn Sie sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen und sich den äußersten Grenzen von Forschung, Wissenschaft und Intellekt nähern, verschwinden Geschichten, werden irrelevant, können sogar verfälschen. Du bist einfach an einem einsamen, dunklen Ort, und du tastest darin herum. Die einzigen Geschichten sind die spekulativen, sogenannten Anekdoten, die Sie als schönen Rahmen verwenden, um sie bei einem Whisky zu erzählen. Zur Unterhaltung.
Was Evans vor allem gewünscht hatte, war eine Geschichte: eine Geschichte, um eventuell unter anderem mit Heinrich Schliemann zu konkurrieren. Dies kennzeichnet ihn immerhin als einen Mann mit einer besonderen Art von Ehrgeiz. Ventris Entschlüsselung des Rätsels zerstörte dieses Geheimnis von einer Geschichte. Es gab keine Geschichten. Nur eine Ansammlung von Zahlen und Details. Schön, leer, sauber, genau, aber für seine hohen Erwartungen und sein Geschichtsverständnis leider ziemlich bedeutungslos. Eine sehr schmerzhafte und bittere Ent-täuschung, die er sich selbst zugefügt hatte.
Denken und Sprache
Wie der Süchtige hat der Einwanderer – der als Ausländer sichtbare Ausländer – eine kompromittierte Subjektivität und hat nicht das Recht, zu schweigen. In jedem alltäglichen Augenblick wird seine Rede verlangt – die konfessionelle Rede der Selbstidentifikation, die Benennung dessen, was man ist, bestätigt und
verstärkt durch solche Sprache, dass man in der Tat der verdächtige Andere ist.
Die Position des Migranten im Westen ist eine Position der Hypervisibilität, einer ständig und allgegenwärtig verweigerten Privatsphäre. Jeder Moment wird überwacht. Das Geständnis wird fortwährend als ein Akt des Rechts gefordert. Gewalt ist somit von vornherein eingefügt in das Gewebe des Alltäglichen, in den Kleinigkeiten des Lebens, in seinen kleinsten Momenten, in seiner Alltäglichkeit. Die erzwungene Rede – die Verweigerung des Schweigerechts – ist für den Fremden ein organisierendes Prinzip des täglichen Lebens im Westen. ( Aamer Hussein )
Tom Wolfe
stirbt im Alter von 88 Jahren
Tom Wolfe, der Essayist, Journalist und Autor von Bestsellern ist im Alter von 88 Jahren gestorben.
Wolfe starb am Montag in einem Krankenhaus in Manhattan, bestätigte seine Agentin Lynn Nesbit am Dienstag. Er war mit einer Infektion ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Mit seinem literarischen Ansatz galt Wolfe als einer der Pioniere des New Journalism. Werke wie die Essay-Sammlung von 1965 The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby, 1968 Der Electric Kool-Aid Acid Test – ein Bericht aus erster Hand über die Experimente des Romanciers Ken Kesey mit psychedelischen Drogen – und 1979 The Right Stuff – ein Bericht über die Piloten und ersten Astronauten – etablierte Wolfe als das Gesicht einer neuen Art von Reportage. Wolfe hat sogar die aktuelle Definition von „New Journalism“ selbst mitgestaltet – mit der Veröffentlichung einer gleichnamigen Essay-Sammlung von 1973, die neben Truman Capote, Joan Didion und Hunter S Thompson seine eigenen Werke veröffentlichte.
Wolfe war auch für seinen ikonischen Stil bekannt, da er bekanntermaßen immer einen dreiteiligen weißen, maßgeschneiderten Anzug trug (er hatte etwa 40), ein Look, den er einmal als „Neo-protzig“ bezeichnete. Der Aufzug, der an einen südländischen Gentleman erinnert, behauptete er – es ließ ihn aussehen wie „ein Mann vom Mars.“
Mit schillernden Geschichten über Exzesse, die er mit seinem schamlosen Blick und einer wilden Energie verfolgt, betrieb Wolfe das, was er „full report“ nannte; minutiös und absolut rücksichtslos aufgezeichnet. „Um es durchzuziehen“, schrieb Wolfe 1970, „musst du beiläufig lange bei den Leuten bleiben, über die du schreibst … lang genug, dass du tatsächlich da bist, wenn entlarvende Ereignisse in ihrem Leben stattfinden.“
1930 in Virginia geboren, ging Wolfe direkt von der Universität in den Journalismus, beginnend bei der Springfield Union in Massachusetts. Später ging er nach Washington, dann nach New York, wo er 1962 für die New York Herald Tribune schrieb. Er ging niemals fort von dieser Redaktion und würde dort mit seiner Frau Sheila Berger, Art Director bei Harper’s Bazaar, und ihren beiden Kindern bis zu seinem Tod ein Zuhause finden.
Nach dem Erfolg von The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby 1965, erschrieb sich Wolfe eine Karriere über Popkultur, Politik und amerikanisches Leben, insbesondere darüber, wie Geld und Wohlstand das Land seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben. Der Electric Kool-Aid Acid Test, der von vielen als das definitive Buch über die Wurzeln und das Wachstum der Hippie-Bewegung angesehen wird, hat ihn in das öffentliche Bewusstsein als eine Art Autorität für Psychedelika versetzt – obwohl er dem Beobachter 2008 erzählte dass er niemals LSD benutzt hatte, trotz einer leichten Ermutigung von Kesey („Ich habe ungefähr sechs Sekunden darüber nachgedacht“, behauptete er).
Er brachte das, was er „die große Herausforderung“ nannte – den Roman „Bonfire of the Vanities“ („Fegefeuer der Eitelkeiten„) im Jahr 1987 heraus, ein großer kommerzieller Erfolg. Ein satirisches Porträt von Gier und Geld in den New Yorkern der 1980er Jahre. Der Roman folgte der Reise des Anleihenhändlers Sherman McCoy von der Wall Street zu einem Gericht in der Bronx, nachdem er einen schwarzen Mann mit seinem Auto überfahren hatte.
Sein zweiter Roman A Man in Full war ebenfalls ein Bestseller, aber sein Erfolg zog Kritiker an; In der New York Review of Books schrieb der Autor Norman Mailer:
„Außergewöhnlich gutes Schreiben zwingt uns dazu, über die unbequeme Möglichkeit nachzudenken, dass Tom Wolfe vielleicht noch als unser bester Autor angesehen wird.„
Wolfe war jedoch dafür bekannt, daß er gut austeilen konnte, indem er mit seinen leidenschaftlichsten Literaturkritikern, nämlich Mailer, John Updike, John Irving und Noam Chomsky, die er „Noam Charisma“ nannte, in den öffentlichen Kampf zog. In einem Essay mit dem Titel My Three Stooges aus dem Jahr 2000 nahm Wolfe Mailer, Updike und Irving aufs Korn und schrieb:
„Es muss sie ein bisschen ärgern, dass jeder – auch sie – über mich spricht und niemand über sie redet.“
Der Autor von 17 Büchern – 13 Sachbüchern und vier Romane – veröffentlichte sein letztes Buch im Jahr 2016: The Kingdom of Speech, eine umstrittene Kritik von Charles Darwin und Chomsky.
„John Maynard Keynes sagte, die Menschen, die erfolgreich sind, sind Menschen mit einer tiergleichen Mentalität, die sich weigern, ihre Risiken anzuerkennen, genauso wie der gesunde junge Mann die Möglichkeit des Todes ignoriert“,
sagte Wolfe dem Observer 2008 auf Nachfrage über seine Arbeitsmoral.
„Ich bin kein junger Mann mehr, und ich habe einen hohen Blutdruck, aber wenn es um Sterblichkeit geht, ziehe ich es vor, das Thema zu ignorieren.“
Provokation als Kunst
DADA und eine Geschichte unserer Zeit
Was kann Kunst ?
Wahnwitzige Happenings, die ultimative Provokation, Unsinn als Antwort auf dies und Alles, also wichtig: viel Lärm und Chaos. Eine Herausforderung und auch eine Spiegelung der Sinnleere einer Kultur, die den Menschen unter anderem auch den blanken Wahnsinn in Form eines Ersten Weltkriegs beschert hatte.
DADA war eine Bewegung von Künstlern, aber auch genialen Lebenskünstlern im besten Sinne des Wortes, die ebenso mutig wie lustbetont auf eine verrückt gewordene Menschheit reagierte. Die Welt drehte sich einfach weiter, dabei war sie doch aus den Angeln gerissen, die Scherben lagen herum und konnten auf der Straße besichtigt werden, sobald man in Berlin und anderswo vor die Tür trat. Der Autor zeigt dem Leser, wie überraschend aktuell auch und gerade heute diese Antworten immer noch sind und wie DADA allerdings auch die Kultur unserer Gegenwart noch immer beeinflusst.
Im Jahr 1916, noch während an allen Fronten getötet und gestorben wurde, initiiert in der neutralen Schweiz in der Stadt Zürich eine Gruppe von Künstlern, Autoren und Theaterleuten das sogenannte Cabaret Voltaire. Hugo Ball zwängt sich in ein schräges Kostüm und bringt völlig sinnlfreie Lautverse zu Gehör, Richard Huelsenbeck trommelt fanatisch frei erfundene Negerlieder und Tristan Tzara veranstaltet eine herrliche Kakophonie aus simultanem Gebrüll. Unerhörtes gehört ab sofort auf die Tagesordnung und DADA ist schlagertig in der Welt und erschrickt und erfreut von der idyllischen, vom Krieg verschonten Schweiz die ganze Welt; vielleicht konnte diese Melange aus Chuzpe, Widerstand und Lust am bösen, brüllendem Witz nur hier ins Leben kommen. Andererseits ändert sich der Charakter von DADA mit jedem Ort, denn die Dadaisten sind entschlossen, aus DADA nicht schon wieder ein weiteres „neues“ Programm zu machen. Das ist auch ein Grund warum DADA, nach Ready-mades von Duchamp, großartigen Montagen von George Grosz, der später noch gerade rechtzeitig in die USA emigrieren wird, und John Heartfield sowie den bekannten Skandalen im Paris von Breton schon bald vorbei ist. Aber DADA wirkt bis heute, was der Autor kenntnisreich dem Leser vor Augen führt.
Martin Mittelmeier führt den Leser durch das komplette DADA-Universum, lässt ihn teilhaben an der unerschöpflichen Kreativität und der Vielzahl der DADA-Subversionen und zeigt auf, wie geschickt, verzweifelt aber auch lustvoll und irrwitzig, ja sogar hellsichtig die Dadaisten auf die alltäglich sich verschärfenden Konflikte einer unmäßig komplexer und brutaler werdenden Welt reagierten, die unaufhaltsam auf eine noch größere Katastrophe zusteuerte und der unsrigen Situation gespenstisch ähnelt. Guter Stoff.
Martin Mittelmeier, geboren 1971, zählt zu den profilierten Lektoren für zeitgenössische Literatur in Deutschland. Nach elf Jahren beim Luchterhand Verlag leitet er seit 2012 das Programm des Eichborn Verlags in Köln. Der promovierte Komparatist hat mehrere Arbeiten zur Philologie und Philosophie veröffentlicht.
Martin Mittelmeier – DADA – 270 Seiten – Siedler Verlag – ISBN 978-3-8275-0070-1
Brandaktuell:
Ein Blick auf den Iran
…und ein guter Einstieg in das Verständnis eines großen Konflikts
Dises Buch „Der Iran. Die verschleierte Hochkultur“ von Andrea Claudia Hoffmann, einer Focus-Korrespondentin, ist nicht ganz auf der Höhe der Zeit, denn es ist bereits vor der Frühlingsrevolution 2009 erschienen. Die Autorin war in den letzten zehn Jahren oft als Journalistin im Iran. Der Klappentext verheißt einen Blick hinter die üblichen Klischees.
Der Leser lernt auch unbekanntere Gesichter dieses historisch und kulturell überaus bedeutenden Landes kennen. Diese Lektüre bietet ein recht informativen und iinteressanten Einstieg für Leser, die sich nicht nur mit den sattsam bekannten, plakativen Medienbildern über dden modernen Staat Iran im 21. Jahrhundert zufrieden geben wollen.
Die Journalistin beschreibt interessant und informativ die lange Historie des persischen Vielvölkerstaats aus ethnischen Persern, Arabern, Kurden und anderer Minderheiten.
Erklärt werden auch die schwelenden Konflikte von vor-islamischem Erbe und Schiitentum sowie die überkommenen kulturellen Differenzen zwischen den Persern und Arabern.
Das schwierige Verhältnis zu Europa und den USA
Der Iran war nach dem zweiten Weltkrieg ja schon einmal auf einem vielversprechendenWeg in eine moderne Demokratie westlicher Prägung, unter dem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh war die schiitische Geistlichkeit nahezu entmachtet worden, die Trennung von Staat und Religion war durchaus in Reichweite . Dieses politische Szenario entsprach jedoch keinesfalls den ökonomischen Interessen der Amerikaner und die skrupellose CIA organisierte 1953 kurzerhand seinen Sturz und brachte den bekannt korrupten Schah Reza Pahlavi zurück auf den Thron – einen willfährigen Partner des Westens und ein gern gesehener Gast in der restaurativen Adenauerrepublik. Seine schillernden Gemahlinnen Soraya und Farah Dhiba füllten damals jahrelang die deutschen Boulevarblätter.
Dieser Putsch gegen den Demokraten Mossadegh löste im Iran sehr zurecht ein begründetes Misstrauen gegenüber dem Westen aus, das naturgemäß anhält. Der Schah versuchte eine rücksichtslose Modernisierung des Iran von oben, die mit der islamischen Revolution des Jahres 1979 endete. Die Autorin benennt klar den diktatorischen Charakter der islamischen Republik, wie der Ayatollah Khomeini sie installiert hat. Mit der unbestrittenen und absoluten Regiment des schiitischen Klerus, hat der Ayatollah die Alleinherrschaft des Geistlichen an der Spitze des Iran auch religiös legitimiert.
Eine informative und lehrreiche Lektüre zum Verständnis eines der beunruhigendsten Konfliktherde heutiger Politik.
Andrea Claudia Hoffmann – Der Iran – 235 Seiten – Diederichs ISBN 978-3-424-35001-2
Reich Ranickis schönste und beste Essays zur deutschen Gegenwartsliteratur
Der vorliegende 570 Seiten starke Band ist nun endlich auch als Taschenbuch bei Pantheon erschienen und von Thomas Anz herausgegeben. Das umfangreiche Werk ist wohl eines der wichtigsten Bücher des Großkritijkers und enthält seine Essays und Kritiken zur deutschen Literatur der Gegenwart aus den Jahren 1960 bis 2008.
Reich-Ranickis Literaturkritiken sind der Übersichtlichkeit halber etwas willkürlich in drei Abschnitte unterteilt: Von der Gruppe 47 bis zur Revolte von 1968, Von der sogenannten Neuen Subjektivität bis zum Fall der Mauer, und endlich Von der deutschen Einheit bis zum 21. Jahrhundert. Diese drei Zeitabschnitte – Epochen kann man sie wohl nicht nenne – umfassen also Marcel-Reich Ranickis Jahre als Literaturkritiker bei der ZEIT und der Frankfurter Allgemeinen ebenso wie seine Zeit als Moderator mit Helmuth Karasek beim legendären Literarischen Quartett des ZDF.
Was meine Lieblingsautoren angeht: Da bleibt MRR doch leider immer etwas vage und unbestimmt. Uwe Johnson etwa findet er bei den Mutmaßungen über Jakob etwas langweilig und stellenweise undeutlich. Dennoch bestätigt er dem jungen Autor aus Mecklenburg:
„Dieses Buch ist eine Provokation und eine unglaubliche Zumutung. Dieser Anfänger ist eine ganz große Hoffnung.“
Den österreichischen Dramatiker und notorischen literarischen Provokateur ThomasBernhard umkreist er eher vorsichtig distanziert und lieber von weitem. Später aber nennt er ihn gern „den großen Thomas Bernhard“.
Meinen vielgelesenen Arno Schmidt, den expressionistischen Wortmetz aus Bargfeld in der Osthaide, beurteilt der Kritiker im Jahr 1967 noch unsicher aber vorsichtig positiv, spätere Kritiken kommen nicht mehr vor, wo das bedeutend weniger der Fall war.
Desto mehr Autoren man bei der Lektüre in den Blick fasst, kann der Leser in diesem interessant zu lesendem Buch etliche amüsante und bis dato unbekannte Statements des Meisters nachlesen und tatsächlich auch eine Entwicklung des Kritikers Marcel Reich-Ranicki nachvollziehen – von den ersten ausführlich und literaturwissenschaftlich argumentierenden Essays bis hin zu den letzten Texten , die skizzenhafter und plakativer geworden sind, pointierter sind sie allerdings auch. Ein lohnendes Buch, man muß ja MRR nicht auf allen Irrwegen folgen.
Marcel Reich-Ranicki – Meine deutsche Literatur seit 1945 – 570 Seiten – Pantheon – ISBN 978-3-570-55328-2
„Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers“
„Bücher müssen mir gefallen, mich beeindrucken, mich entzücken.“
Marcel Reich-Ranicki
Diese Literaturgeschichte ist eine persönlich geprägte Geschichte der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart von Marcel Reich-Ranicki, dem unvergessen leidenschaftlichen, kenntnisreichen, unbestechlichen wie provokanten Literaturkenner und -liebhaber. Jahrzehntelang war es ihm Passion, für seinen Kanon der bedeutendsten und besten Autoren und ihrer Werke zu diskutieren und disputieren.
Seit 1958 war er als angesehener Literaturkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig und ab 1988 leitete Reich-Ranicki die legendäre Fernseh-Literatur-Talkshow – wie auch immer man diese Sendung chrakterisieren möchte – „Das Literarische Quartett“ zusammen mit Helmuth Karasek und Gästen im ZDF. Das Jahr 1958 markiert einen Wechsel im Leben von Marcel Reich-Ranicki. Der Zeit davor widmet er seinen Memoiren und hielt detailliert fest, was er in den bewegten Zeiten vor und nach dem 2. Weltkrieg als jüdischer Bürger in Europa erlebt hatte. Seit Beginn seiner Tätigkeit im Feuilleton der FAZ galt der schon bald nicht unumstrittene, geliebte, gehasste und oft bewunderte Kritiker als der „Literaturpapst der Nation“ und veröffentlichte als solcher den „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ im SPIEGEL Die bisher umfassendste Sammlung der wichtigsten und besten Essays dieses Jahrhundertkritikers gibt es auch als 580seitiges Taschenbuch im Pantheon-Verlag : „Meine Geschichte der deutschen Literatur“.
Sie vermittelt ein facettenreiches, begeisterndes wie provozierendes Bild der deutschen Literaturgeschichte, in der Reich-Ranicki erklärtermaßen seine intellektuelle Heimat fand. Von den Minneliedern über Lessing, Heine, Brecht bis hin zu den Schriftstellern der Gegenwart wie Thomas Bernhard oder Uwe Johnson reicht dieses Werk des einflussreichen und kompetenten Kritikers. Ach ja, und den großen Arno Schmidt nicht zu vergessen, zu dem MRR ein etwas distanziertes Verhältnis pflegte:
„Wahr ist, daß ich kein Enthusiast Arno Schmidts bin und es mit Sicherheit nicht mehr werde. Daß ich aber kaum etwas mit seinem Werk anfangen könne, dürfte doch wohl übertrieben sein. An zwei Erzählungen von Arno Schmidt erinnere ich mich oft und gern: „Die Umsiedler“ und „Seelandschaft mit Pocahontas“.
Herausgeber ist Thomas Anz, ein Begleiter Reich-Ranickis und Kenner seines Schaffens. Das Buch weist manchmal auch neue und überraschende Wege auf der Suche nach Literatur, die so fesselnd und großartig ist, dass man sie ein Leben lang lieben kann.
»Wie ein letzter Gruß. […] es lässt noch einmal Freude aufkommen angesichts des packenden Zugriffs dieses Stilisten – ein Anwalt der Literatur und der Leser.«
DER SPIEGEL, 29.12.2014
Marcel Reich-Ranicki – Meine Geschichte der deutschen Literatur- 580 Seiten – Pantheon Verlag – ISBN 978-3-570-55312-1
Peter Watson – Der deutsche Genius
Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.
Peter Watson beschreibt die deutsche Geistes- und Kulturgeschichte vom Ende des Barock bis zur Gegenwart. Eine Zeitspanne, in der sich deutsche Ideen, deutscher Geist und deutsche Ideologien das Weltgeschehen maßgeblich beeinflusst und geprägt haben. Der britische Autor, Jahrgang 1943, zeichnet hier ein sehr kenntnisreiches und hochwertiges Ideenkompendium nicht nur für Bildungshungrige. Peter Watson schreibt dabei ganz bewusst gegen ein gerade in Großbritannien weit verbreitetes Bild der Deutschen an; auf der britischen Insel wird Deutschland auch heute noch nicht ganz ohne Grund gern auf die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Hitler- Diktatur reduziert.
Watson spricht von einer, vor allem bei Briten zu beobachtenden Besessenheit vom Dritten Reich und einem „obsessiven Interesse an Hitler und dem Holocaust“. Dieses nehme „das historische Interesse derart in Beschlag, dass wir uns damit (…) selbst der Möglichkeit berauben,uns mit anderen wichtigen Aspekten
der deutschen Geschichte zu befassen“. Höchste Zeit sei es, endlich „über Hitler hinaus (…) zurückzublicken“ und den unbefangenen Blick dafür zu schärfen, „daß wir den Deutschen eine Menge verdanken.“
Auch den vielgenannten Vorwurf, die Deutschen wären vor der Politik in eine idealisierte Form der Kultur geflüchtet, lässt Watson nicht ungeprüft und gibt zu bedenken, „dass in diesem anderen Verständnis von der Art und Weise,wie unsere geistigen Aktivitäten organisiert sein sollten, eine entscheidende, eine lehrreiche Andersartigkeit zum Ausdruck kommt.“ Ganz im Sinne von Hölderlins: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, sieht Watson die deutsche Geisteskultur nicht nur von ihrer Schattenseite, sondern rückt zugleich auch ihre lichtvollen Aspekte in den Vordergrund. Vor allem am Beispiel Heideggers wird dies deutlich, dem er trotz
aller Verfehlungen zubilligt, die Bedrohungen der Technik antizipiert und in einer
Sprache artikuliert zu haben, „die wir uns heute vielleicht einmal genauer ansehen sollten, wenn wir uns ernsthaft Gedanken über den Weg machen wollen.“
Die Kritik der Deutschen an der Modernität, ihr Zögern in Bezug auf die vermeintlich
erlösenden Kräfte von Wissenschaft undTechnik – all das deutet nicht nur auf die
viel gescholtenen Wesenszüge deutscher Weltfremdheit, sondern vielmehr auf einen
möglichen Weg zur Überwindung der bedrängenden gegenwärtigen Gefahren. So diagnostizieren etwa Jürgen Habermas und Max Weber beide, dass die Naturwissenschaften zwar die Grundlagen des religiösen Glaubens zerstört haben,
aber selbst nicht dazu in der Lage seien, einen Weg zur Heilung aus der leidvollen
menschlichen Existenz zu weisen. „Die Deutschen erklären uns, dass der Weg aus
unserem Dilemma weder ein technischer noch ein wissenschaftlicher, sondern ein
philosophischer ist: eine grundlegende Frage unserer Lebenseinstellung“.
Wichtiger und inhaltschwerer Lesestoff und eine gute und notwendige Basis für einen neuen Diskurs über eine brandaktuelle Frage: Quo vadis Europa ? Nun endlich auch als 1020 Seiten starkes aber erschwingliches Taschenbuch zu haben.
Peter Watson , geb.1943, ist britischer Journalist und Kulturhistoriker.
Watson war als Journalist stellvertretender Herausgeber von New Society, bei der Sunday Times (als Teil des „Insight Teams“), war NewYork-Korrespondent der Times und schrieb für die New York Times, den Observer, Punch, Spectator. Themen seiner journalistischen Tätigkeit waren unter anderem Kunsthandel , worüber er das Buch „Double Dealer“ schrieb (und einen Fernsehfilm drehte), das 1983 den Gold Dagger erhielt. Seine Kriminalromane spielen teilweise ebenfalls in der Kunstszene, zum Beispiel in Lügenlandschaft (Hinweise auf einen vergrabenen Schatz in einem englischen Renaissance-Gemälde) . Er schrieb auch eine Biographie über Rudolf Nurejew, Bücher über Kunsthandel wie über das Auktionshaus Sotheby’s, über Kunstraub, Kunstgeschichte und Bücher über allgemeine Kulturgeschichte.
Seit 1989 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am McDonald Institute for Archaeological Research der Cambridge University. Er lebt in London und Frankreich.
Peter Watson – Der deutsche Genius – btb Taschenbuch – ISBN 978-3-442-74803-7
George Grosz in Amerika
Wir denken meistens an die satirischen Medien am linken Rand des Pressespektrums, die mehr oder weniger in der Nachkriegszeit erfunden wurden, besonders in den 1960er und 1970er Jahren, als der Aufstieg alternativer Zeitungen ( Pardon, Titanic, konkret , twen etc.) humorvolle, skurrile und auch unerschrockenen Schlagzeilen lieferte, die keinerlei Angst oder Bedenken hatten, die gewohnten Grenzen eines ungeschriebenen Pressecodex zu überschreiten. Immer schon stammten die besten Titel aus Europa, vor allem aus den kühnen Bewegungen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden waren, darunter Surrealismus, Dada und Expressionismus.
Nicht von ungefähr war George Grosz , einer der Hauptdarsteller des Expressionismus in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in einer ziemlich schwierigen Zeit in den USA mit einer aufreizenden linken politischen Zeitschrift unterwegs. Das Blatt hieß Americana, Chefredakteur und Gründer war ein schillernder junger Mann namens Alexander King. Eine Reihe von späteren Publikationen wie The East Village Andere , The Black Panther, The Berkeley Barb und The Realist hatten, ob sie es wussten oder nicht, Americana verdammt viel zu verdanken.
Die Bilder von Americana, im Gegensatz zu vielen Dingen, die mehr als acht Jahrzehnte alt sind, stecken immer noch voller Brisanz. Die Bilder zeigen uns, was hätte passieren können, wenn die ursprünglichen Herausgeber des New Yorker in den 20er und 30er Jahren in den USA die Aufgabe gehabt hätten, die International Times der späten 1960er Jahre zu gestalten.
George Grosz: König als älterer Mann in den 1950er Jahren, hier mit Jack Paar; Foto aufgenommen während Paar’s Zeit als Gastgeber der täglichen Tonight Show
Historiker, die den Aufstieg von Americana verfolgten, loben und zitieren es vor allem für zwei Dinge: ihre beeindruckende Liste von redaktionellen Mitarbeitern und ihre äußerst kurze Erscheinungsdauer. Americana existierte nur für 17 Ausgaben in den Jahren 1932 und 1933, zu einem Zeitpunkt, als Amerika offensichtlich in einer katastrophalen Depression steckte. George Grosz brachte exakt den bissigen Witz und kritischen Geist nach New York, der hier dringend gebraucht wurde.
Während Franklin D. Roosevelt versuchte, den Kapitalismus von seinen eigenen Erfolgen zu retten, stellte Americana konsequent und mit großem Scharfsinn die Prämisse in Frage, daß der Kapitalismus überhaupt wert sei, noch gerettet zu werden. Was damals in den USA eine sehr ketzerische Frage war. Was die Leute wirklich über die Wahrscheinlichkeit dachten, daß Roosevelt die Probleme der Arbeiterklasse lösen würde, schrieb Gilbert Seldes in der Ausgabe nach Roosevelts erster Wahl:
Ich werde den Herausgebern von Americana vorschlagen, dass sie sich reformieren. Kein Sadismus mehr. Nur hübsche Bilder süßer Kommunisten, die Trotzki aus dem Exil willkommen heißen; süße Kapitalisten, die die Füße der zehn Millionen Arbeitslosen waschen, und süße Redakteure von liberalen Zeitschriften, die breit über die triumphierende Liebe lächeln.
In seinem Buch An Autobiography erinnert sich Grosz an den Herausgeber King und Americana:
Die einzige Person, die mich mitnahm, war mein Freund Alexander King, der Amerikas erste und einzige satirische Zeitschrift Americana herausbrachte und regelmäßig meine Sachen veröffentlichte. Er stutzte mir weder meine Flügel noch meine Fingernägel: „Kratze ihnen die Augen aus, George“, sagte er zu mir, „je härter, desto besser!“
Americana war auch ein früher Erscheinungsort für die Arbeit von Al Hirschfeld , der später viel bekannter wurde, weil er das Wort „NINA“ in die Schnurrhaare von Orson Welles und die Locken von Bernadette Peters steckte.
Es überrascht nicht, dass King selbst aus Europa kam – er wurde 1899 in Wien als Alexander Koenig geboren. In seinen späteren Jahren wurde er in den USA eine bekannte Talk-Show-Persönlichkeit und schrieb mehrere Bücher, die sehr gut waren. In seiner Rezension von King’s 1960er Buch May This House ist sicher von den Tigern , schrieb Time Magazine wie folgt:
„….ein Ex-Illustrator, Ex-Karikaturist, Ex-Adman, Ex-Editor, Ex-Dramatiker, Ex-Dope Süchtiger. Ein Vierteljahrhundert lang war er Ex-Maler und qualifiziert sich durch seine bizarre Darstellung als Ex-Hebamme. Er ist auch ein Ex-Ehemann von drei Ehefrauen und ein Ex-Wiener von ausreichendem Alter (60), um sich an den muttonchopped Kaiser Franz Joseph zu erinnern. Als Ärzte ihm vor ein paar Jahren sagten, dass er bald ein Ex-Patient sein könnte (zwei Schlaganfälle, schwere Nierenerkrankung, Magengeschwüre, Bluthochdruck), setzte er sich hin und erzählte schwule Geschichten über das Leben all dieser früheren Könige.
Es ist leider so, dass es heute in den USA verdammt wenig an Americana gibt, was sehr schade ist. Allerdings sind die Bilder dieser wunderbaren Publikation erstaunlich gut gealtert, besitzen immer noch ihre eindringliche Kraft, das Auge zu fesseln und auch zu schockieren. Sei es mit dem Gekeife der damals „modernen Messiasse“ Stalin und Gandhi (!) oder die offene und kritische Präsentation der zunehmenden Verelendung der Unterschichten und Minderheiten. Hier lesen Sie mehr .
Kürzlich entdeckt:
Die Hasenträume von Siegmund Freuds Nichte
Unter dem Pseudonym Tom Seidmann-Freud -oft abgekürzt zu „Tom“ – hat Sigmund Freuds exzentrische Nichte Martha im frühen zwanzigsten Jahrhundert eine Reihe wunderbarer Kinderbücher illustriert. Sie tötete sich 1930 (37 oder 38 Jahre alt), ein Jahr nachdem ihr Ehemann sich selbst getötet hatte. Dieses grausame Ende spiegelt sich jedoch nicht in ihrer traumartigen, oft skurrilen, auch wunderbar apokalyptischen Arbeiten wider. Hier zeige ich die meisten ihrer Illustrationen für das Buch Der Hasengeschichten (1924) – ein wunderbares Buch, obwohl ich wahrscheinlich nie ein Exemplar davon besitzen werde.
Lesen Sie mehr über Tom Seidmann-Freud und ihre Bücher auf dieser Website .
Buch Der Hasengeschichten
Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Buch Der Hasengeschichten
Mehr dazu findet sich in der Universitätsbibliothek Braunschweig.
Das Schreckensbuch
Der Koran wird entschleiert
Am 14. Februar 1989 ließ der Ayatollah über Radio Teheran verkünden:
„Ich gebe den stolzen muslimischen Völkern der Welt bekannt, dass der Autor der ‚Satanischen Verse‘, eines Buches, das sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die an der Veröffentlichung des Buches beteiligt waren, zum Tode verurteilt sind. Ich rufe alle aufrechten Muslime auf, diese Leute sofort hinzurichten, wo immer sie sie finden, so dass niemand mehr wagen wird, die Heiligkeit des Islam zu verletzen. Jeder Muslim, der dabei stirbt, wird als Märtyrer angesehen und kommt direkt ins Paradies.“
Das bedeutete die gefürchtete Fatwa, ein Todesurteil, für den Autor dieses Buches, den die FAZ spontan für den Nobelpreis vorgeschlagen hatte. In den „Satanischen Versen“ beschrieb er, der in England lebte, die Loslösung von der islamischen Tradition. Aber wie er dies tat, erregte den Ayatollah. Er nannte den Propheten Mohammed mit seinem christlichen Schimpfnamen Mahound, was Teufel bedeutete. Die Huren eines Bordells in Mekka verwandelten sich in Ehefrauen des Propheten. Und die göttliche Offenbarung des Korans wurde in Frage gestellt, weil er auch vom Satan eingegebene Verse enthalte.
Um sich der Vollstreckung des Todesurteils zu entziehen, tauchte Rushdie, bewacht vom britischen Geheimdienst, unter. Binnen eines Jahres wechselte er vielmals sein Versteck. In einem heimlich aufgenommenen Interview mit einem englischen Radiosender beschrieb er sein neues Leben so:
„Ich verbringe mein Leben mit Lesen und Schreiben. Es ist ein einfaches Leben, aber es ist schon in Ordnung, soweit. Wenn ich morgens aufstehe, arbeite ich und tue all das, was Sie tun könnten, wenn Sie in den vier Wänden eines Hauses eingesperrt wären.“
Salman Rushdie hielt am satirischen Charakter seines Romans fest – auch als Muslime in vielen Ländern auf die Straße gingen, um dagegen zu protestieren. Aber er begann die Reaktionen auf sein Buch zu reflektieren:
„Als Autor der ‚Satanischen Verse‘ ist mir bewusst, dass sich Muslime in vielen Teilen der Welt durch die Veröffentlichung meines Romans ernstlich bedrückt fühlen. Ich bedauere es zutiefst, wenn die Veröffentlichung islamischen Gläubigen Schmerz zugefügt hat. Da wir in einer Welt mit vielen Glaubensrichtungen leben, sollte uns diese Erfahrung daran erinnern, dass wir die Empfindlichkeit anderer nicht aus dem Auge verlieren dürfen.“
Die Debatte um den Islam, den politischen Islamismus und seine Anhänger ist nach wie vor gerade in Europa brandaktuell. Dieses Buch gibt keine Antworten, aber es problematisiert durchaus eindrucksvoll und überzeugend die nach wie vor große Kluft zwischen der politischen Ideologie und der Religion eines zunehmend in Krieg, Chaos und Terror versinkenden Orient und einem aufgeklärten westlichen Abendland.
Seit kurzem liegt dieses wichtige Buch dankenswerterweise wieder als Taschenbuch vor.
Salman Rushdie – Die satanischen Verse – 706 Seiten – Penguin books – ISBN 978-3-328-10216-8
Ernst Schulze – Tagebücher und Briefe
Ernst Schulze ( 1789 – 1817 ) geboren und gestorben in der Stadt Celle, war ein Dichter der Romantik, der mit seinen schwärmerischen Texten und seiner Lyrik schon in jungen Jahren Furore machte. Seine „Cäcilie“, ein in Versform gegossenes Epos an seine große Jugendliebe, die früh verstorbene Cäcilie Tychens aus Göttingen, war nicht nur in seiner Heimat Celle und Göttingen außerordentlich populär und verbreitet. Selbst Goethe war sein Schaffen daher nicht unbekannt geblieben, er nannte Ernst Schulze „den jungen Wohlklang“. Franz Schubert vertonte einige seiner Texte. Mit dem Ende der Romantik wurden in der Folge seine Werke jedoch allmählich vergessen.
Seit 2017, dem 200. Todestag des Dichters und dem Gründungsjahr der „Ernst-Schulze-Gesellschaft“ in Celle, liegt nun wieder eine Auswahl seiner Briefe und Tagebücher vor.
Der junge Wohlklang – Ernst Schulze – Tagebücher und Briefe – Wallstein Verlag – ISBN 978-3-8353-3117-4
Pulitzerpreis
National Book Award
Stephen Greenblatt – Wie die Renaissance begann
Der Bestsellerautor Stephen Greenblatt wirft einen neuen Blick auf die bedeutendste Kunstepoche an der Schwelle zur Neuzeit. Ausgehend vom Beginn des 15. Jahrhunderts und einem antiken Text, der die Welt der Kunst und das Denken der Menschen in ihr radikal verändern sollte.
Der als Shakespeare-Kenner bekannte Harvard-Professor nimmt einen zu Anfang des 15. Jahrhunderts gefundenen Text des antiken Dichters Lukrez zum Ausgangspunkt und als roten Faden seiner Geschichte von den Anfängen der Renaissanc. Dem Autor gelingt hier ein Stück brillante Wissenschaftsprosa, die durch Kenntnisreichtum genauso überzeugt wie durch sprachliche und erzählerische „Eleganz“. Denn Greenblatt zeigt sehr eindrücklich die radikale Veränderung, die von diesem bahnbrechenden Text ausging und spätere Generationen nachhaltig inspirierte. Ein mutiger Ansatz, präzise analysiert und sehr plausibel. Lohnende Lektüre.
Stephen Greenblatt – Wie die Renaissance begann -340 Seiten – Pantheon – ISBN 978-3-570-55235-4
Der ultimative Führer durch Berlin
Wladimir Kaminer – charmant und brüllend komisch
Was Sie schon immer über Berlin wissen wollten, Wladimir Kaminer zeigt es Ihnen mit Witz und charmanter Ironie, Kalauer und brutale Ehrlichkeit gibts noch obendrauf. Verrückte und Entrückte bestehen die wildesten Abenteuer im gnadenlosen Alltag der 24 Stunden geöffneten Stadt. Seine Helden und Antihelden werden skizziert mit warmem Blick und allerhöchster Komik durch ein Brennglas, das leider nur Kaminer anscheinend immer und überall zur Hand hat.
Wladimir Kaminers bewundernswertes Personal bewegt sich immer an der schmalen Grenze zum alltäglichen Lachkabinett. Das ist naturgemäß für LeserInnen alleweil sehr erheiternd , unterhaltsam und von liebevollem Respekt vor den Zeitgenossen geprägt, welche Tag für Tag aufs Neue den Kampf ums Überleben aufnehmen in einer Stadt, in der die verfügbaren Lebensräume erkennbar kleiner werden. Man darf das bunte literarische Abenteuer also auch hier in Berlin niemals mit der grauen Wirklichkeit verwechseln, obschon Markennamen, Orte, Straßen und auch die Personen der realen Welt zugehörig sind. Kaminers „Schönhauser Allee“ ist daher auch eine liebevolle Hommage an eine entschwindende Welt, die Welt von gestern.
Wladimir Kaminer – Schönhauser Allee – Goldmann – 186 Seiten – ISBN 978-3-442-54168-3
Es war einmal in Schweden
Wie Therapeuten einen Massenmörder schufen
Dan Josefsson ist ein schwedischer Autor, preisgekrönter, investigativer Journalist und Dokumentarfilmer. Für seine packende Dokumentation »Der Serienkiller, der keiner war – und die Psychotherapeuten, die ihn schufen« wurde er mit dem Preis der Swedish Society of Investigative Journalists, dem Johan Hansson Preis für Non-Fiction und dem Swedish Grand Prize for Journalism, ausgezeichnet.
Diese packend und mireissend geschilderte Dokumentation eines unglaublichen Justizskandals lässt Leserinnen und Leser entsetzt und verstört zurück. Wie ist so etwas möglich, wie kann so etwas in einem aufgeklärten, demokratischen Rechtsstaat mitten in Europa geschehen ? Da wird ein unbedeutender Drogendealer und Kleinkrimineller plötzlich und offenbar ohne dringenden Anlass von heute auf morgen in die forensische Abteilung einer großen psychiatrischen Klinik in Schweden eingewiesen. Dort gesteht schliesslich Sture Bergwall, so der Name des Patienten, unter dem Einfluss mehrerer Therapeuten eine Vielzahl von Morden. In der Folge wird er verurteilt. Dabei hat er nie einen Menschen umgebracht. Nichts ist wahr. Der Fall entwickelt sich zum größten Justizskandal der Geschichte.
Sture Bergwall erzählt seine dramatischen Erlebnisse im schwedischen Fernehen.
Eine bis zuletzt aufwühlende, packende und erhellende Story über Anmassung, Machtmissbrauch und die gefährlichen Obsessionen ignoranter Karrieristen. Großartiger Journalismus wie man ihn viel zu selten bewundern kann.
„Hervorragend recherchiert !“ sagt zurecht THE GUARDIAN.
Dan Joseffson – Der Serienkiller, der keiner war – btb-Taschenbuch – 560 Seiten – ISBN 978-3-442-71556-4
Eine Hommage
an die größte Rockband aller Zeiten
Hier ist es endlich: ein Buch, das dem Leser mal wieder Lust macht auf die Musik der Rolling Stones !
Der Autor des 500 Seiten Epos, Rich Cohen, erzählt die Geschichte der Rolling Stones in „Die Sonne, der Mond & die Rolling Stones“ noch einmal so brillant und packend, daß sie ebenso frisch und lebendig rüberkommt wie Mick Jagger und Keith Richards auf den Bühnen dieser Welt; obwohl scheinbar endlos oft gehört. Genau wie die Musik der Band in ihren ganz großen Jahren. Rich Cohen tourte als junger Reporter des gleichnamigen Rockmagazins „Rolling Stone“ in den Neunzigerjahren mit den Stones quer durch die Vereinigten Staaten. Damit erhielt er automatisch auch Zugang zu den Rockstars sowie der prominenten Entourage und hat zusammen mit Mick Jagger und Regisseur Martin Scorsese auch die berühmte Serie „Vinyl“ geschrieben. Seine Verehrung für die Musiker und seine Hingabe zu Songs wie „Honky Tonk Women“ oder „Jumpin‘ Jack Flash“ sitzt so tief, dass er sie „my country“ nennt, „in dem ich mein Leben lebe“
„Von Anfang an hatten die Stones keine Hemmungen, unerwünschtes Personal über Bord zu werfen. Hatten sie ihre Schuldigkeit getan, wurden die Teilzeitpartner zwanglos entsorgt.“
Der Autor Rich Cohen hat viele Interviews geführt ehe er seine Texte produzierte. Er ist ein routinierter Schreiber mit einem wachen Blick fürs entscheidende Detail. Auch wenn er sich manchmal von seiner Liebe zur Musik der Stones zu einigem Überschwang hinreissen läßt; so liest sich sein Text zu dem melancholischen Song „Wild Horses“:
„Es heißt, dass jegliche Form von Kunst danach strebt, Musik zu sein. Ich hatte immer den Eindruck, als wolle jegliche Form von Musik so sein wie ‚Wild Horses‘.“
Nun ja…. Daß der Gitarrenlehrer Brian ein Guru sei und auch die Begleitung von „Wild Horses“ perfekt sei, hätte man vielleicht nicht unbedingt erfahren müssen. Dennoch macht dieses dicke und sehr unterhaltsam zu lesende Buch wieder Lust auf die Musik der guten alten Stones.
Die teilweise deprimierenden Geschichten von den trostlosen Schicksalen so mancher Weggefährten und Zeitgenossen des Rock-Karawane und die gnadenlos ehrlichen Porträts manch verschrobener und gefallener Stars der immerwährend wildbewegten Rockszene bewegen und erschrecken. Zweifellos eine Fundgrube nicht nur für die Hardcorefans der größten Rockband der Welt.
Rich Cohen – Die Sonne, der Mond & die Rolling Stones – btb Verlag München – 530 Seiten – ISBN 978-3-442-75626-1
Thomas Bernhard
Goethe schtirbt
Vier kleine Stücke eines großen Meisters
Thomas Bernhard liest Montaigne im Turm, während man im Garten nach ihm fahndet. In Norwegen muß er feststellen, was schon Arno Schmidt im Kriege vermerkte: er lernte nichts,
„außer daß das Essen schlecht und der norwegische Kunstgeschmack niederträchtig ist. Ein völlig unphilosophisches Land, in welchem jede Art von Denken binnen kürzester Zeit erstickt.“
Aber die Leute von Musjöh auf dem Land haben einen völlig verstimmten Bösendorfer-Flügel herumstehen, auf dem Schubert klingt wie neue, moderne Musik. Das erfreut sie und gibt ihnen eine Idee von moderner Musik, von der sie keine Ahnung haben. Auf einem Berg über Wien schaut er zu, wie ganz Österreich abbrennt und in einer „grau-schwarzen Brandöde“ endet, in der keinerlei christlich-soziale, katholische oder nationalsozialistische Reste mehr auszumachen sind.
Derweil schtirbt Goethe, wartend in Weimar auf Ludwig Wittgenstein ( siehe weiter unten ), den ein privater Kurier eilig aus „Cambridge oder Oxford“ heranschaffen soll. Goethe kam durch ein rotes Suhrkamp-Bändchen auf den großen österreichischen Philosophen, seitdem liegt der „Tractatus logico-philosophicus“ immer unter seinem Kopfkissen. Goethe schtirbt dann aber. Goethes letzte Worte waren nicht: „Mehr Licht !“ sondern „Mehr nicht!“ Er weiß es genau, er war dabei. Vier köstlich surreale Kabinettstückchen.
Thomas Bernhard – Goethe schtirbt – 99 Seiten -Suhrkamp Verlag-ISBN 978-3-518-42170-3
Ian Mac Ewan
Honig
Geschichten vom kalten Krieg
Gut, dieses Buch ist keine Neuerscheinung. Aber ein Mc Ewan ist seit „The Comfort from Strangers“ immer eine Erwähnung wert. Im England der Siebzigerjahre landet die junge Serena aufgrund ihrer Bewerbung unwissentlich beim britischen Geheimdienst MI5, in deren Echokammer der brutale Schock der Fünfzigerjahre noch immer nicht verhallt ist, als die jungen und verwegenen „Cambridge Five“ für die Sowjetunion jahrelang vor aller Augen und Ohren unerkannt Spionage betreiben konnten. Diese von den Sowjets sehr zutreffend als „hopeless drunks“ klassifizierten, linken Utopien zugeneigten Dozenten aus Cambridge hatten geradezu kinderleicht den MI5 unterwandert und Material an die Russen geliefert. Das soll nie wieder passieren, darum gilt es nun, die kritischen britischen Intellektuellen mit einem stramm konservativen literarischen Köder namens „Honig“ zu entwöhnen. Wer aber produziert diesen Lockstoff ?
Die ahnungslose Serena soll Autoren aquirieren und brauchbare Texte liefern, was das naive Mädchen naturgemäß direkt in die Arme mehr oder weniger erfolgloser Texter treibt; zwangsläufig verliebt sie sich zudem in einen 54jährigen Literaturprofessor, der in jungen Jahren ebenfalls schon einmal mit dem MI5 verbandelt war. Verwicklungen erotischer und beruflicher Art sind unausweichlich und treiben das trickreich entwickelte Szenario auf eine finale Entscheidung zu, die der Leser so niemals erwartet hätte. Oberflächlich ist dieser Text eine amüsante Lovestory, ein ironischer Blick auf die 70er und ein spannend zu lesender Thriller, aber dieser Plot von Mc Ewan hat – wir ahnen es – selbstverständlich nicht nur eine Ebene. Wirklich guter Stoff, dieser Honig von Mc Ewan.
Ian Mc Ewan – Honig – 460 Seiten – Diogenes Verlag – ISBN 978-3-257-06874-0
Claus Koch – 1968
Drei Generationen – eine Geschichte ?
Der Autor, Diplompsychologe Jahrgang 1950, zeichnet eine Skizze seiner Nachkriegsgeneration, die nach einer Sozialisation im dunklen Schatten der Adenauer-Republik gegen das Schweigen der Väter und gegen die herrschenden Verhältnisse rebellierte. Die Studentenproteste auf den Straßen Berlins, die Ermordung Benno Ohnesorgs und das Attentat auf Rudi Dutschke schufen in der jungen Bonner Republik eine düstere Atmosphäre von Angst und Unterdrückung, die geschürt wurde von einer Aggression der Massenmedien. Die Resultate sind bekannt und deren Auswirkungen können bis heute besichtigt werden.
Aus Brandsätzen gegen den Springer Konzern und weiteren sogenannten revolutionären Aktionen formierte sich ein harter Kern gewaltbereiter „Revolutionäre“, die ihren Adorno und Marcuse gegen die Mao-Bibel getauscht hatten und nicht länger bereit waren, auf das richtige Leben im falschen zu warten, sondern ab sofort Taten folgen liessen. Die Verbrechen der RAF-Fraktion unter dem Kommando ideologisch verblendeter Aktionisten in den folgenden Siebzigerjahren gaben der 68er Bewegung den Rest und führten in die verhärtete, bleierne Zeit, in der keine weiterführenden Diskussionen über die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen mehr möglich waren. Was also bleibt von der 68er Revolte und wie werden diese Jahre von den nachfolgenden Generationen beurteilt ?
Bleiben werden die unbestrittenen emanzipatorischen Erfolge, die auch durch die politischen Erfolge der SPD befördert wurden. Wer hier wen beeinflusst hat, bleibt dabei nebensächlich, der vielbeschworene „Zeitgeist“ beherrschte ja nicht nur die Straßen Berlins und Paris sondern bestimmte maßgeblich ein befreites Denken und Handeln auch an den Universitäten und Hochschulen der Republik, wobei der alltägliche Kampf um mehr Freiräume und gegen eine permanente Bevormundung durch Politik und Staat weitere Bereiche des öffentlichen Lebens politisierte und auch polarisierte. Frauen erkämpften sich mühsam die ersten Schritte zu einer Gleichberechtigung in Beruf und Alltag, das selbstbestimmte Recht auf Abtreibung war plötzlich kein Tabu mehr, als in der Zeitschrift STERN prominente Frauen sich öffentlich zu einer Abtreibung bekannten. Das kam Anfang der Siebzigerjahre einer kleinen Revolution gleich, die Verhältnisse wurden zum Tanzen gebracht. Der sogenannte zweite Bildungsweg wurde installiert und eröffnete auch jungen Menschen einen Zugang zu den Hochschulen, denen diese Bildungsperspektive bis dato verwehrt gewesen war. Es gab dank Bafög mehr Gerechtigkeit im Bildungswesen und auch politische und soziale Rechte der Frauen wurden gestärkt. 68er bashing ist zwar in manchen Kolumnen blitzgescheiter Jungredakteure zur Zeit sehr angesagt, aber diese Nebelkerzen der in den diskursfreien, öden Achtzigerjahren sozialisierten Generation sind erkennbar von nur rudimentärer Kenntnis dieser wildbewegten Ära des Aufbruchs geprägt. Und es ist ja nicht so, daß diese Rebellion bei uns in der Bundesrepublik – in Frankreich und Italien waren die studentischen Bewegungen ebenso aktiv und erfolgreich – nur die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im emanzipatorischen Sinne verändert hätten: es gab eine neue Frankfurter Schule, es gab Regisseure wie Faßbinder, Herzog, Wenders, Kluge und andere. Der deutsche Film dieser Jahre war nicht nur eine kommerzielle sondern auch eine emanzipatorische Erfolgsgeschichte während unsere heutigen, kritikfreien Filmschaffenden kinematografische Kleinodien wie „Der Schuh des Manitou“ oder „Lola rennt“ als Welterfolge bejubeln. Die Filme von Faßbinder, Herzog oder Wenders erzählten allesamt von einem anderen Leben, von den Versuchen einer permanenten Emanzipation, vom Kampf des Individuums gegen die Entfremdung , gegen die herrschenden Verhältnisse der Bevormundung und Unterdrückung. Große Filmkunst war das , wie wir sie in den folgenden Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr gesehen haben – es sei denn, von diesen genannten Autoren. .
Im vielgescholtenen öffentlich-rechtlichen TV- Programm liefen in jenen Jahren nicht zehn Tatorte pro Woche oder die hundertste Wiederholung von „Mord mit Aussicht“, sondern Faßbinder-Serien wie „Acht Stunden sind kein Tag“ oder „Berlin Alexanderplatz“ anstatt Mord und Totschlag von Tel Aviv bis Göteborg ! Es fragt sich heute keiner der Kritiker der 68er mehr, warum diese großartigen Beiträge auf Nimmerwiedersehen in den Archiven verschwunden sind, während der Tatort-Müll ungefiltert Abend für Abend die Wohnzimmer von Millionen Menschen fluten kann. Hat sich unsere sogenannte Kultur-Kritik bereits dieser Müllawine ergeben?
Die heutige Generation kennt wenig von den 68ern und diesen bewegten Jahren, sie kann aber in diesem Buch durchaus die lebendig geschilderten historischen Entwicklungen der 68er Epoche nachvollziehen, sie erfährt nebenbei auch einiges wissenswertes über die gesellschaftlichen Bedingungen politischen Lernens und Handelns. Unsere postmoderne, multimedial gelenkte Gesellschaft der billigen und angenehmen Beliebigkeiten, des „anything goes“, hat einen falschen und gefährlichen Freiheitsbegriff in die Welt gebracht. Freiheit kann auch die Freiheit von allem bedeuten ! Notwendig für eine neue Verortung des sozialen und politischen Freiheitsbegriffs in unserer Gesellschaft ist daher eine durchaus kritische aber auch erkenntisorientierte Auseinandersetzung mit den politischen und soziokulturellen Errungenschaften der 68er Revolte.
Alles ist vergebens
James Salter blickt zurück aufs Leben – Alles was ist
Wenn ein Autor mit über achtzig Jahren nach langen Jahren des Schweigens wieder einen Roman vorlegt, dann darf man erstens gespannt sein auf solch ein Alterswerk und zweitens eine tendenziell milde Stimme der Kritik erwarten. Das letztere ist dann auch in vollem Umfang eingetreten. Ich lese niemals Klappentexte oder Waschzettel, bevor ich ein Buch rezensiere. In diesem Fall wollte es aber der Zufall, daß mir auf der Rückseite des Covers sogleich der Name „Shakespeare“ entgegensprang.
Kein Geringerer als der große Kollege John Irving äusserte hier seine Vermutung, der großartigste Poet der Welt hätte an der Sprache Salters sein Vergnügen gefunden. „Rauschhaft“ nannte er das, was der Autor hier zu Papier gebracht hat. Nun ja, es mag an der Übersetzung liegen, aber etwas Rauschhaftes ist mir auf diesen 360 Seiten nicht begegnet. Noch dicker trägt ein anderer, vielbewunderter Großkollege auf: für Richard Ford ist Salter schlicht: „Brillant. Satz für Satz der Meister“. Nicht ein Meister, sondern wohlgemerkt DER Meister…Und „Die Welt“ kniet nieder: „Wir dürfen lesen, staunen, danken.“
Tut mir leid, da habe ich ein anderes Buch gelesen. Zwar stellt auch James Salter einige Zeilen seinem Roman voran, wonach unser Leben nur ein Traum sei, und das mag womöglich John Irving irgendwie an Shakespeare erinnert haben…
Dieser Roman ist weder rauschhaft noch traumhaft, sondern einfach nur eine oftmals wie nebenbei erzählte, ziemlich langweilige weil belanglose Aneinanderreihung von Ereignissen eines alles in allem recht typischen amerikanischen Männerlebens von der Nachkriegszeit bis in die Achtzigerjahre. Alles geschieht etwas zu flüchtig, wenig bleibt von Dauer. Man schaut eher desinteressiert den Akteuren, ihren mehrfach scheiternden Ehen und Verhältnissen zu, Personen ohne Gesicht und Charakter, knapp gezeichnet, erscheinen auf der flackernden Leinwand der Erinnerungen und sind schon wieder entwischt und vergessen. Lakonisch und auch fatalistisch ist diese streckenweise sehr nüchterne Rückschau eines desilliusionierten alten Mannes und sprachgewaltig ist nichts in diesem Text. Bob Dylan sang einmal von seinem Leben als “ a series of dreams“; von Träumen handelt dieser Roman definitiv nicht – und sollte es wohl auch nicht.
„Trauern zeugt von vieler Liebe, doch zuviel trauern, zeugt von wenig Witz“. (Shakespeare)
James Salter – Alles was ist – 360 Seiten – erschienen im Berlin-Verlag ISBN 978-3-8270-1162-6
Was Sie schon immer
über den Marxismus wissen wollten…
„Drei Bände Kapital stabilisieren dein Regal„,
hiess es in unseren schönen Studentenjahren. Naturgemäß kannte jeder diesen epochemachenden Wälzer, diese alles erklärende und verklärende Bibel der Jünger des dialektischen Materialismus. Man zitierte gern daraus in den entsprechenden Seminararbeiten, bevorzugt knackige Zitate, die uns in drei, vier Sätzen die Welt erklärten oder doch zumindest die Dialektik der Produktionsverhältnisse im ausbeuterischen Kapitalismus näherbrachten. Naturgemäß hatte niemand diese drei legendären Bände des Karl Marx vollständig gelesen.
Christina Morina – Die Erfindung des Marxismus
Nun – anläßlich des 200. Geburtstages von Karl Marx – machte sich Christina Morina mit ihrer Habilitationsschrift daran, die Entwicklungsgeschichte des Marxismus anhand von neun Biografien neu zu verorten.
Untersucht werden also die politischen Biografien von Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Victor Adler, Jean Jaurès, Jules Guesde, Georgi W. Plechanow, Wladimir I. Lenin und Peter B. Struve. Die Autorin beginnt jeweils mit der Sozialisation in Elternhaus und Schule, sie zeigt die Wege der Politisierung und der Aneignung der Marxschen Schriften und erklärt schliesslich auch das recht verschiedenartige Engagement der handelnden Akteure. Konflikte und Kontroversen werden gefunden und auch benannt.
„Die Marx-Aneignung im Kontext der ersten politischen Erfahrungen der Protagonisten würde ich weder als Konversion bezeichnen, noch war sie das Ergebnis eines dezidierten Entschlusses. Eher erscheint sie als ein langwieriger intellektueller und emotionaler Approbationsprozess. Eine Art tertiäre Sozialisation.“
…weshalb es der Autorin auch weniger um eine theoretische Rekonstruktion dieser marxistischen Diskurse geht, sondern vielmehr um „erfahrungsgeschichtliche Perspektive“ und die nicht einfache Fragestellung:
„Wie erklärt sich Radikalisierung ? Wie ticken Revolutionäre ?“
Insofern entwickelt Christina Morina „das Portrait einer Gemeinschaft von sinnsuchenden, eklektisch und doch systematisch lernenden, aktionistischen, ehrgeizigen, rechthaberischen Weltverbesserern.“ denn:
„…drittens wirkte Marx als Erbauer: Er formulierte Emotionen auf eine Weise, wie es seinerzeit keiner vor ihm und vielleicht nur Engels mit und nach ihm konnte.“
Theorie und Praxis sind für den Marxismus stets miteinander verschränkt , die Dialektik von Kopf und Bauch allgegenwärtig und so kommt die Autorin zum „Zweiten Gebot: Philosophie als Praxis – Über Revolution“. Das Wirken dieser von ihr skizzierten ersten Marxisten konnte daher nur ein politisches Engagement sein und sie
„übten folglich nicht ‚Kritik als Beruf‘, sondern folgten einer Berufung; sie spielten keine Rolle, sondern verschrieben ihre ganze Existenz der Verwirklichung eines politischen Programms.“
Ihr Handeln beruhte dementsprechend also nicht auf einer allgemeinen gesellschaftskritischen Haltung, sondern immer „auf einer grundsätzlich geschlossenen, parteilichen und fundamentalkritischen Weltanschauung.“ Philosophie muss in Praxis münden und Praxis ist für die Marxisten der Umsturz der sozialen Verhältnisse.
„Das Sein bestimmt das Bewußtsein!“
Christina Morina macht anhand der offen kritischen Auseinandersetzungen Luxemburgs und Lenins mit den Ereignissen von 1905 in Russland erkennbar, wie sich die marxistische Theorie einer proletarischen Revolution erst in der revolutionären Praxis herausbilden konnte und musste. Bei Rosa Luxemburg konstatiert sie eine „Mischung aus Voluntarismus und Idealismus, aus Aktion und Reaktion, welche den modernen Revolutionsbegriff kennzeichnet“. Christina Morina erzählt dem Leser anschaulich nachvollziehbar, wie dieses explosive Ideenpaket in diesen Jahren seine ungeheure Anziehungskraft entfaltet. Die Schöpfungsgeschichte einer Weltanschauung, die unseren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Lebensbedingungen so vollständig und radikal verändern konnte.
Casablanca 1943
im Fokus der Weltgeschichte
Und ein Filmklassiker, geboren in einer Welt im Krieg
Ein nächtlicher Flughafen in Nordafrika, eine alte Propellermaschine wartet mit dröhnenden Motoren auf dem Rollfeld. Drei Menschen kommen ins Blickfeld: zwei Männer und eine Frau; es ist Zeit Abschied zu nehmen, endgültigen Abschied. Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart schauen sich ein letztes Mal tief in die Augen… Jeder kennt diese melodramatische Schlußszene des Filmklassikers „Casablanca„, der pünktlich zum Ende der politischen Konferenz, in der damals von Frankreich nur verwalteten marokkanischen Hafenstadt, am 26. November 1942 in die amerikanischen Kinos kam und sofort zu einem Welterfolg wurde.
Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt – zwei grundverschiedene Charaktere – hatten sich damals auf die durchaus gefährliche Reise nach Casablanca begeben um auf einer sorgfältig vorbereiteten Geheimkonferenz über die gemeinsame Vorgehensweise zur Beendigung des zweiten Weltkriegs zu beraten. Hier sollten die Weichen gestellt werden, die richtungsweisend sein würden für die letzten zwei Kriegsjahre sowie für die kommenden Jahrzehnte eines neugeborenen politischen Europa; denn ihre fundamentale, unverhandelbare Voraussetzung für einen Friedensschluß war die totale Kapitulation der Achsenmächte, was definitiv das Ende des Dritten Reichs bedeuten würde. Durch die bekanntgewordene Konferenz und die dort aufgestellte politische Forderung nach bedingungsloser Kapitulation erhielt der Film „Casablanca“ mit Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart in den Hauptrollen schlagartig seine ungeheure politische Bedeutung. Die Legende des Filmklassikers Casablanca war geboren. Der Werbeslogan der Warner-Brothers-Company lautete dann auch folgerichtig: „Hat es je einen aktuelleren Film gegeben?“
Der Autor Norbert F. Pötzl, ehemaliger SPIEGEL-Redakteur, schildert detailreich die Vorführung des brandneuen Films am Silvesterabend des Kriegsjahres 1942 im Weißen Haus in Washington. Die Brisanz des dramatischen Hollywoodstreifens ist den Anwesenden sofort bewußt, schließlich war der an der Ostfront entscheidende Fall Stalingrads in aller Munde in diesen bewegten Wintertagen; nicht nur in Deutschland und Europa. Anschließend informiert der Autor kenntnisreich und ausführlich über die Entstehungsgeschichte sowie die Probleme und Schwierigkeiten bei der Produktion von „Casablanca„. Die vielschichtigen, immer auch kommerziellen Verbindungen von Film und Politik im damaligen Hollywood werden dabei keinesfalls ausgespart.
Die oft unterschätzte historische Relevanz der Konferenz von Casablanca, mit den Akteuren Roosevelt, Churchill und de Gaulle wird ebenso in eigenen Kapiteln faktenreich und spannend dargelegt, so daß der Verlauf dieser richtungsweisenden Geheimkonferenz auch für politisch wenig informierte LeserInnen nachvollziehbar wird. Eine fesselnde Lektüre und ein faszinierender Blick auf ein wichtiges Kapitel der Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Casablanca – Konferenz im Januar 1943 mit Franklin D. Roosevelt, Charles de Gaulle und Winston Churchill (v.l.n.r)
Norbert F. Pötzl – Casablanca 1943 – 255 Seiten – Siedler-Verlag – ISBN 978-3-8275-0088-5
Erinnerungen
an Rudolf Augstein
„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht, und küsse die Marketenderin. Das ist die ganze Wissenschaft, das ist der Bücher tiefster Sinn.“ (von Augstein gern erwähntes Heine-Zitat)
Die Autorin zeichnet das einfühlsame Psychogramm eines großen Journalisten, der von seinem politischen Gestaltungswillen besessen war und dem es gelang , entgegen allen Widrigkeiten im Nachkriegsdeutschland ein ebenso kompetentes, kompromissloses wie auch unbestechliches politisches Nachrichtenmagazin zu installieren, das bald zu den wichtigsten und besten der Welt zählen sollte.
Daß er nebenbei die Frauen liebte und verehrte und beständig wie beharrlich ihre Nähe suchte, war ein offenes Geheimnis und für die Autorin keine gänzlich unerwartete Erfahrung. Diese spannend zu lesenden, detailreichen Aufzeichnungen einer „Insiderin“ des Hamburger Medienzirkels geben uns daher auch ein facettenreiches Sittenbild der noch jungen, sehr bewegten Bonner Republik der Siebzigerjahre. Unterhaltsamer, informativer und auch köstlicher Lesestoff.
„Ich habe ihn einmal, als wir uns nicht mehr für nüchtern halten konnten, getragen, eine Treppe hinab und herunter zum Taxi. Er war leicht. Mehr Vogel als Stein. So leicht, als bestünde er aus lauter Gedanken. Er war schneidig. Er war liebenswürdig. Am liebsten würde ich sagen: Er war ein toller Kerl.“ (Martin Walser)
Irma Nelles – Der Herausgeber – 320 Seiten – erschienen im Aufbau-Verlag – ISBN 978-3-351-03630-0
John le Carre
empfindliche Wahrheit
Spannend, hochaktuell und brisant ist der dieser Thriller vom britischen Bestsellerautor John le Carre. Der Ex-Geheimdienstmann le Carre steigt mal wieder tief ein in die Aktivitäten einiger Agenten ihrer Majestät. Diesmal gilt es rund um den nackten Felsen Gibraltar eine schlagkräftige Antiterror-Truppe zu formieren, die eine Organisation mächtiger islamistischer Waffenhändler aufspüren und zerschlagen soll.
Viel Geld ist im Spiel, was die ganze Sache nicht unbedingt einfacher machen wird. Fergus Quinn, ein hohes Regierungsmitglied hält alle Fäden in der Hand bis geheime Akten mehr enthüllen als sie verheimlichen können. Einer seiner besten Leute, Toby Bell, stößt auf weitere Ungereimtheiten und brisante Fakten und weiß plötzlich mehr, als ihm lieb sein kann. Souverän gekonnt konstruiert der Autor einen ebenso brisanten wie unausweichlichen Konflikt: sein Held muß sich entscheiden zwischen der Loyalität zu seiner Regierung und seinem Gewissen. Atemlose Spannung ist wie immer bei diesem Autor garantiert. In Großbritannien lange die Nummer eins der Bestsellerlisten.
John le Carre – Empfindliche Wahrheit – 390 Seiten – Erschienen im Ullstein-Verlag – ISBN 978-3-550-08036-4
Eine Art Realitätenvermittler
Thomas Bernhard – eine Biografie von Manfred Mittermayer
„Ich darf nicht leugnen,daß ich auch immer zwei Existenzen geführt habe, eine, die der Wahrheit am nächsten kommt und die als Wirklichkeit zu bezeichnen ich tatsächlich ein Recht habe, und eine gespielte, beide zusammen haben mit der Zeit eine mich am Leben haltende Existenz ergeben.“ – Thomas Bernhard, Der Keller
Klassiker der Weltliteratur, weltberühmter Dramatiker, polarisierender Skandalautor: all diese Prädikate hat man dem 1989 verstorbenen österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard schon verliehen. All das war der Autor. Für seine Leserinnen und Leser aber war er weit mehr als ein unbequemer österreichischer Dichter; er war eine Art Realitätenvermittler und – ja, das war er auch – ein moralische Instanz, die mit jedem neu erschienenen Roman oder Theaterstück seine geliebte Heimat Österreich wieder einmal schonungslos und klar kritisierte und sezierte. Das gefiel nicht jedem seiner Landsleute. Mit schöner Regelmäßigkeit vermochte er die Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen, er brachte die Verhältnisse zum Tanzen. Die Premieren seiner berühmten Theaterstücke bis hin zu seinem letzten Erfolg „Heldenplatz“ lösten verlässlich frenetischen Beifall und wüste Beschimpfungen aus. „Mit der Kälte nimmt die Klarheit zu“ hatte er einmal gesagt, aber dieser Kälte wollte sich nicht jeder aussetzen.
Umfassend und fundiert, spannungsvoll und detailreich beschreibt Manfred Mittermayer das Leben eines mutigen Dichters und eines rücksichtslosen Kritikers gegen jedermann und sich selbst.
Thomas Bernhard und Claus Peymann nach der „Heldenlatz“ Premiere am Burgtheater
„In Österreich mußt Du entweder katholisch oder nationalsozialistisch sein. Alles andere wird nicht geduldet. Alles andere wird vernichtet .“ ( T. Bernhard)
Manfred Mittermayer – Thomas Bernhard, eine Biografie. 450 Seiten – erschienen im Residenzverlag ISBN 978-3-7017-336
Richard Yates – Cold Spring Harbor
Eine Skizze bürgerlichen Alltags in den 1940er Jahren an der amerikanischen Ostküste auf Long Island. Zwei Familien der gehobenen bürgerlichen Ostküsten-Oberschicht treffen unvermutet aufeinander, und nicht ganz unerwartet bringt es naturgemäß auch in diesem Fall die altvertrauten Beziehungen, Verhältnisse und Gewissheiten ein wenig durcheinander.
Die Dame des Hauses trinkt etwas zu viel und ist sichtlich erfreut, ihre Aufmerksamkeit auf ein neues attraktives Ziel lenken zu können; sie verbindet Charles und all ihre verdrängten Wünsche und Sehnsüchte mit dem „alten Geld“, das muss genügen.
Der Autor zeichnet dieses Sittenporträt präzis und ironisch. Richard Yates ist immer überzeugend in seinem lakonischen Existentialismus; seine psychologisch überzeugend gezeichneten Heldinnen und Helden des amerikanischen „way of life“ vor dem Sündenfall tun stets ihr bestes wenn es darum geht die eigenen Lebenslügen geschickt zu verbergen, den offensichtlichen Selbstbetrug mit einem smalltalk und einem Martini in der Hand amüsiert lächelnd zu akzeptieren. Überraschungen allerdings sind auch hier das Salz in der Suppe… Der Autor zeichnet dieses alles andere als idyllischen amerikanischen Sommer kühl, schnörkellos und wie immer herzzerreißend.
Erschienen bei DVA – 978-3-421-04610-9
Gregor Schoellgen
Krieg, Hundert Jahre Weltgeschichte
Wo steht die Welt heute ?
Über mehr als sechs Jahrzehnte hatte der kalte Krieg in der nördlichen Hemisphäre einen heissen Krieg auch dank der allseitigen Präsenz von Atomwaffen verhindert. Aber die Einschläge kommen näher, die neuen Konflikte verschonen auch die alten Kontinente nicht mehr. An den Grenzen der Europäischen Union erwachsen zunehmend Gefahrenzonen.
Gregor Schoellgen skizziert in seinem aktuellen Buch ein fundiertes Panorama der vergangenen hundert Jahre Weltgeschichte mit ihren verheerenden weltumspannenden Kriegen und den damit verbundenen humanitären Katastrophen. Die prägenden Konflikte und Frontlinien werden präzise verortet und das schlummernde Gefahrenpotential wird benannt. Ausgehend vom verheerenden 1. Weltkrieg und der daraus entwachsenen Oktoberrevolution in Rußland werden alle kriegerischen Auseinandersetzungen analysiert. Mit Lenin, so Schoellgen, habe erstmals in der Geschichte ein Mann und eine Partei der ganzen Welt den Krieg erklärt. Man kann es durchaus so interpretieren und benennen und damit schon auf eine der Wurzeln der großen Weltkonflikte weisen. Schoellgen versteht es, bekannte Phänomene und historische Konflikte neu zu interpretieren und damit gewohnte Erklärungsmuster, wenn auch nicht über Bord zu werfen, so doch kompetent zu hinterfragen. Dies ist umso interessanter, als sich heute für Deutschland eine Frage stellt, wie sie vor zweihundert Jahren bereits ähnlich diskutiert wurde: sollten wir nicht besser mit Frankreich endlich ein starkes, selbstbewußtes Europa schmieden , statt weiter mit einem aggressiven russischen Bären ein jahrelanges Appeasement zu probieren, welches erkennbar nur in ein politisches Nirgendwo führen kann ?
Diese Frage wird auch hier nicht explizit gestellt, man kann sie aber auf tieferer Ebene als Subtext in einigen Kapiteln mitlesen. Einfache Antworten hat auch Schoellgen nicht parat. Ganz im Gegenteil entläßt er den Leser zwar nicht ratlos aber doch sehr nachdenklich. Seine Kapitel benennt er „Säuberung“, „Vernichtung“, „Teilung“, sowie „Terror“ und „Flucht“. Und ein jedes dieser prägnant skizzierten politischen und menschlichen Schreckensbilder verrät viel über Irrtum und Ohnmacht , aber auch über Skrupellosigkeit und Wahn von Politik und Diplomatie. Und dabei sprechen wir nicht nur von Vergangenheit, der Blick nach vorn kann Schlimmeres offenbaren; bis heute ist aus der Geschichte nicht viel gelernt worden.
Gregor Schoellgen, Jahrgang 1952, lehrt neuere und neueste Geschichte an der Universität Erlangen. Er war Gastprofessor in Oxford. New York und London und als exzellenter Kenner internationaler Beziehungen lange Jahre für die historische Ausbildung deutscher Diplomaten zuständig. Er ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes.
Gregor Schoellgen – Krieg – erschienen bei DVA- 368 Seiten – ISBN978-3-421-04767-0
Julie Zeh – Unterleuten
Zwischen Aufbruch und Resignation
Nun ist dieser kontrovers diskutierte Roman auch als Taschenbuch erschienen, und es läßt sich mit dem Abstand von einem Jahr vielleicht ein etwas ruhigerer Blick auf diesen über sechshundert Seiten starken, sogenannten Gesellschaftsroman werfen. Womit wir beim ersten Knackpunkt dieses recht forsch , teils atemlos konstruierten Textes wären. Es türmen sich die Konflikte, viele Konflikte, und zwar von der ersten Zeile an. Kann man alle Probleme unserer modernen Gesellschaft in diesem kleinen Kaff Unterleuten in Brandenburg verhandeln oder austragen ? Taugt dieses Konzept als „Gesellschaftsroman“ ?
Alle Stereotypen sind auf der Bühne versammelt. Die alteingesessenen Dorfbewohner, ex-Kommunisten, ex-DDR-Spiesser, ex-Nazis; aber auch einfach nur schrullig vertrottelte Dörfler, die den neu Zugezogenen aus der Hauptstadt mit gesundem Mißtrauen begegnen, die hier auf dem Land ihre Suche nach einem neuen, sprich besseren Leben beginnen.
Sie alle sind Fliehende. Sie flüchten vor dem Moloch Berlin, vor den Frustrationen des beruflichen Alltags, vor den Problemen privater Beziehungen und Enttäuschungen jeglicher Art. Glücksuchende in der vermeintlichen Idylle der Provinz, die aber, wir alle ahnen es, und die Autorin macht es sofort überdeutlich klar , bereits besetzt ist. Auch hier auf dem platten Land herrscht die Dialektik von Kopf und Bauch, stärker sogar als anderswo. Das Gute, das man will ist nicht so einfach zu erreichen wie man es sich in der schicken Berliner Altbauwohnung erträumt hatte. Und dann kommt da noch so ein profitgieriger Windparkbetreiber, der endgültig einen Rest von der erträumten Dorfromantik gründlich zerstören will. Alternative Energien ja bitte, aber nicht vor der eigenen Tür.
All die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich in den Biografien der Protagonisten ebenso manifestieren wie in der als zunehmend feindlich erlebten Realität eines winzigen Kaffs am Rande der Hauptstadt, müssen auf einen großen Konflikt zulaufen, das ist bei dieser Kolportage nicht zu übersehen. Der Roman ist streckenweise sehr spannend zu lesen, wenngleich etliche Figuren doch sehr holzschnittartig gezeichnet sind. Vieles ist präzise beobachtet, aber das kleine Dorf Unterleuten ist auch erkennbar sehr überfordert mit den importierten Lebensentwürfen und Träumereien alternativ gesinnter Gutmenschen, deren Pläne und Visionen mit dem Leben der Dörfler wenig gemein haben. Enttäuschungen und verzweifelte Resignation sind da vorprogrammiert und lassen nicht auf sich warten. Von der Politik erwartet man ja eh nichts mehr.
Erzählt wird das alles aus den stetig wechselnden Perspektiven der Handelnden; somit werden die gegensätzlichen Standpunkte deutlich akzentuiert und treiben die Handlung des Romans unausweichlich auf einen Showdown zu. Das ist durchaus spannend erzählt, über Strecken sehr unterhaltsam und nicht ohne Ironie beobachtet, für einen wirklich großen Gesellschaftsroman jedoch bietet dieses Unterleuten am Ende doch eine etwas zu schmale Kulisse.
Der große Thomas Bernhard hatte dazu naturgemäß einen klaren Standpunkt:
„Der auf dem Land Lebende verdummt mit der Zeit, ohne dass er es merkt, eine Zeit lang glaubt er, es sei originell und seiner Gesundheit förderlich, aber das Landleben ist überhaupt nicht originell, sondern eine Abgeschmacktheit für jeden, der nicht auf dem und für das Land geboren ist, und es ist seiner Gesundheit nur schädlich. Die Leute, die auf das Land gehen, gehen auf dem Land ein und sie führen eine wenigstens groteske Existenz, die sie zuerst in die Verdummung und dann in den lächerlichen Tod führt. Einem Großstadtmenschen empfehlen, auf das Land zu gehen, damit er überlebt, ist eine internistische Gemeinheit, dachte ich. Alle diese Beispiele von Leuten, die aus der Großstadt auf das Land gegangen sind, um dort besser und länger zu leben, sind nur fürchterliche Beispiele, dachte ich.“
Julie Zeh – Unterleuten – Als Taschenbuch im btb-Verlag – ISBN 978-3-442-71573-2
Irmtraud Morgner – Phantasie und Ironie als die Waffen einer Frau
Irmtraud Morgner , die in Ostberlin DDR lebende Schriftstellerin aus Sachsen, legte bereits 1974 diesen fast siebenhundert Seiten starken Großroman „in dreizehn Büchern und sieben Intermezzos“ vor, der ihre LeserInnen auf Anhieb begeisterte. Die Fortsetzung folgt 1983 mit dem zweiten Band „Amanda. Ein Hexenroman“ . Den dritten Band ihrer Trilogie konnte Irmtraud Morgner, die Anfang 1990 starb, nicht mehr fertig stellen. Im Westen spielte sich damals der permanente Kampf für die Emanzipation und Frauenrechte schon seit Jahren auf den Strassen ab, im Osten schuf eine mutige Frau einen großartigen, fantasievollen Text, der auch ihre bundesrepublikanischen LeserInnen auf der Stelle begeisterte. Dabei ließ die tapfere Troubadorin, die auch noch gegen einen heimtückischen Krebs kämpfen musste, von Anbeginn keinen Zweifel an ihrem Anspruch:
„Mein Antrieb wäre nicht, Kunst zu machen; mein Antrieb wäre, Welt zu machen. Natürlich mit der größtmöglichen Wucht an Worten.“ In ihrem Fokus stand allein “ der Eintritt der Frau in die Historie“.
Guten Morgen du schöne DDR: Sonntagmorgen 1983 in Leipzig
Es ging Irmtraud Morgner , die den Kamf gegen den Krebs kurz nach dem Fall der Mauer mit 57 Jahren verlor, stets darum, Verstand und Sinne für Utopien und Träume zu schärfen. Ja, auch für Kreativität, Glück und Schönheit !
Gerade in den Zeiten untergehender Gesellschaftsutopien setzte sie mit der subversiven Kraft weiblicher Lust und Fantasie , mit beharrlichem Trotz und Witz auf ihre sogenannten „Privat“-Utopien (I. Morgner), widerständig und unbequem – nicht nur im grauen, real existierenden Partei-Patriarchat einer untergehenden DDR, die die meisten der heutigen LeserInnen nicht mehr kennen. Daß allerdings dieser großartige Roman der unvergessenen, mutigen Irmtraud Morgner auch heute „neu“ gelesen werden kann und muss, dafür sorgt diese neue Taschenbuch-Ausgabe.
Irmtraud Morgner – Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura – erschienen als btb- Taschenbuch – 680 Seiten – SBN 978-3-442-71577-0
Bonjour Francoise !
Francoise Sagan – die Wiederentdeckung
„Ce n’est parce que la vie n’est pas elegante, qu’il faut se conduire comme elle !“
Ein Fest für das Leben, ein Fest für die Liebe. Das waren all ihre Bücher, seit diese mutige und schonungslos ehrliche Frau 1957 mit ihrem flamboyanten Debutroman „bonjour tristesse“ die ganze Welt überrumpelte.
Was das viel missbrauchte „savoire vivre“ im wirklichen Leben wirklich bedeutete, konnte man schon in ihren jungen Pariser Jahren beobachten. Wenn man schnell genug war, ihrem offenen Jaguar oder Aston Martin auf der autoroute du sud , einer Landstraße, zu folgen. Wann immer die Sonne hoch genug stand, und das konnte auch im Februar sein, ging es barfuß und mit Vollgas in Richtung Cote d’Azur. Francoise Sagan war alles andere als ein dünnhäutige, Bionade-schlürfende, vegane Jungautorin, die in pseudointellektuellen Literaturzirkeln ihre geschundene Frauenseele pflegte.
Francoise lebte und liebte atemlos im hier und jetzt, trank und tanzte mit Brigitte Bardot in Saint Tropez, lebte den Jazz in Paris mit Juliette Greco, mit der sie Musik machte und Schallplatten mit ihren Texten einspielte. Sie lebte und liebte Männer und Frauen, sie trank, sie rauchte und sie raste mit ihrem ebenso autoverrückten Bruder des Nachts über die damals noch herrlich leere Peripherique wenn es zu langweilig wurde. Keine Zeit für Nichtigkeiten, kaum Zeit zu atmen, zu schreiben… In ihren späteren Jahren, nach dem brutalen Trauma ihres entsetzlichen Autounfalls, hatte sie einen jour fix mit Jean-Paul Sartre zum abendlichen Diner in Paris und sie flog mit Francois Mitterand um die halbe Welt, der die erfrischenden, unkonventionellen Gespräche mit ihr genoß. Gewiss, Konventionen jeder Art waren ihr so fremd wie die Vorstellung im trauten Heim als treue Ehefrau ihre Tage zu verbringen. Obwohl sie es einmal versucht hatte.
Derweil schrieb sie, atemlos, weinend, verzweifelt, krank, allein in ihrem Riesenhaus in der Normandie, das sie sich ein einer Nacht im Casino von Deauville am Roulettetisch erspielt hatte. Die starken Opiate, die sie nach dem Unfall in der Klinik bekam um ihre furchtbaren Schmerzen zu lindern, hatten eine suchtkranke, verzweifelte Francoise zurück in ihr noch junges Leben entlassen. Man hatte sie nicht sofort operieren können. Innere Verletzungen, multiple Frakturen an Becken, Rippen, Schulter, Beinen und Armen. Sie schrieb und sie kämpfte. Die Hilfe ihrer Freunde war das Wertvollste, das sie in jenen Tagen und Nächten hatte. Sie schrieb wie im Fieber, das Geld kam und ging . Die Nächte von Paris, die Bars, die Thater und Clubs waren und blieben naturgemäß in den 60er und 70er Jahren ihr bevorzugtes Revier. Sie fuhr leidenschaftlich gern Auto; weiterhin schnell und barfuß ihre geliebten, extravaganten Cabrios von Ferrari und Maserati.
Ihr Kollege, der große Thomas Bernhard sagte dazu:
„Nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommende, den man sich vorstellen kann.“
Im wilden Jahr 1968 bei einem „Sit-in“ an der Sorbonne – wo sich die erfolgreiche Autorin mutig der Kritik und auch den unverhüllten Anfeindungen einer linken, rebellierenden Jugend stellte – wurde sie wieder einmal von einem Studenten spöttisch angemacht: „Na, Madame Sagan, heute mal wieder mit ihrem schicken Ferrari hier ?“ „Nein, Monsieur“, entgegnete sie kühl, „heute ist es ein Maserati.“ Großes Gelächter. Auch eine Interviewerin sprach sie einmal auf ihre lebenslange, große Liebe zu extravaganten, schnellen Automobilen an. Francoise Sagan erklärte es der Journalistin sehr freundlich und geduldig: “ Liebeskummer, müssen Sie wissen, erträgt sich in einem Jaguar sehr viel besser als in einem Omnibus. Glauben Sie mir, meine Liebe, ich weiß wovon ich rede.“
Unsere vielgeliebte Francoise wird sich sicher nicht im Grabe herumdrehen, wenn wir anmerken, daß ihre Romane nicht zu den ganz großen des vergangenen Jahrhunderts gezählt werden können. Aber sie schrieb sehr junge, sehr ehrliche Bücher über ein ewig junges Thema: die Liebe. Toujours Francoise !
Francoise Sagan – Ich glaube ich liebe niemanden mehr – mit Zeichnungen von Bernard Buffet – Aufbau Verlag – Ganzleinen – 90 Seiten – ISBN 978-3-351- 03367-5
Francoise Sagan – Mein Blick zurück – Erinnerungen – Ullstein Verlag – ISBN 3-550-08314-9
George Grosz – ein unbestechlicher Chronist
Alexander Kluy legt erstmals eine akribisch recherchierte und präzise konstruierte Biografie dieses großartigen, scharfen Beobachters einer der spannendsten Epochen der deutschen Geschichte vor.
George Grosz verstand es wie kein Zweiter, die politisch und kulturell wildbewegten Jahre der sogenannten Weimarer Republik im wahrsten Sinne des Wortes aufzuzeichnen. Er war so etwas wie eine erste „Edelfeder“ der Republik. Sein Blick auf die Herrschenden ebenso wie auf die herrschenden Zustände im Berlin der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts ist gekennzeichnet von sezierender Schärfe und bissiger Kritik. Grosz verbringt Nächte mit Alkohol und Skizzenbuch in den angesagten Kneipen und Bars der Berliner Halbwelt, durchstreift die Rotlichtbezirke und vergleicht die vorgefundene Realität, die zerrissenen Existenzen einer trostlosen Nachkriegszeit voller Entbehrungen und einer lebensvernichtenden Inflation mit der Scheinheiligkeit politischer Sonntagsreden und den glühenden Heilsversprechen roter und brauner Missionare, die mit Agitprop und Schlägertrupps die Straßen Berlins zu ihrer Bühne machen. Messerscharf und skrupellos seziert der Künstler auf seinen Blättern mit Stift und Feder in größtmöglicher Freizügigkeit die schamlose Orgie bürgerlicher Lebensgier und Verkommenheit. Ein grotesker Reigen sich auflösender Verhältnisse auf einer winzigen Insel zwischen den blutigen Leichenbergen zweier Weltkriege. Das Skalpell des George Grosz ist das adäquate Instrument für diese verstörenden Skizzen. Ihm verdanken wir den schonungslosen, klaren Blick auf diese Jahre. Grosz wusste früh um die Ausweglosigkeit der Verhältnisse in dieser dem Untergang geweihten Demokratie, er setzt sich 1932, ein Jahr vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten , nach New York ab. Alexander Kluys Biografie zeichnet das bewegte Leben des Künstlers akribisch auf. Das ist packender Lesestoff und zeichnet ein facettenreiches Panorama jener Berliner Jahre.
George Grosz – Eine kurze Biografie:
Ab 1913 arbeitete George Grosz im Atelier Colarossi in Paris, ein Jahr später meldete er sich als Freiwilliger zum Ersten Weltkrieg. 1916 gründete er mit Wieland Herzfelde und Franz Jung die erste Dada-Zeitschrift „Neue Jugend“. 1917 erschien die sogenannte „Kleine Grosz-Mappe“, die als frühes Beispiel des Dadaismus in Berlin gilt. Zwischen 1919 und 1920 gründete er weitere Kunstzeitschriften wie „Die Pleite“ oder „Der blutige Ernst“. Aufgrund seiner bissigen, sozialkritischen und satirischen Karikaturen folgten einige Prozesse gegen Grosz, er beteiligte sich an der ersten internationalen Dada-Messe in Berlin im Jahr 1920. Zwei Jahre darauf reiste er für ein halbes Jahr in die Sowjetunion. Fünf Jahre nach der Oktoberrevolution war die UdSSR damals für viele linke Intellektuelle zu einem Utopia, einem Sehnsuchtsort geworden. Bis zum Jahr1930 veröffentlichte George Grosz verschiedene grafische Folgen wie „Gott mit uns“, „Das Gesicht der herrschenden Klasse“ oder „Abrechnung folgt!“. Aufgrund der freizügigen Darestellungen sowie der progressiven und sozialkritischen Inhalte wurde Grosz mehrfach wegen Pornografie und Gotteslästerung verurteilt. Es folgten zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen, wie bei Alfred Flechtheim 1929 in Berlin, 1922 in Hannover, 1924 in Paris, 1929 in Berlin, 1930 in Venedig, 1930 in New York und 1932 in Brüssel. Im Jahr 1924 wurde George Grosz Mitglied der „Roten Gruppe Berlin“. während dieser Grosz machte in diesesn Jahren die Bekanntschaft mit dem Profiboxer Max Schmeling, der sein begehrtes Modell wurde. Aufgrund der immer deutlicher werdenden faschistischen Tendenzen in Deutschland Anfang der 30er Jahre denkt Grosz über eine Auswanderung nach.
George Grosz gehörte von Beginn zu den kompromisslosesten Gegnern des Faschismus. Von einem mehrmonatigen Aufenthalt in New York kehrte Grosz 1932 nicht mehr nach Deutschland zurück. Während in Deutschland seine Werke als sogenannte „Entartete Kunst“ diffamiert und schließlich verbrannt wurden, schuf Grosz in den USA nur noch wenige anerkannte Werke. Sein Spätwerk bestand zunehmend aus harmonischen Stillleben, Akten und Landschaften. 1938 wurde Grosz amerikanischer Staatsbürger. In seiner 1946 erschienenen Autobiografie bekannte sich George Grosz nicht mehr bedingungslos zu seinem politisch und kulturell aggressiven Frühwerk, nun spricht er auch der damaligen Dada-Bewegung jede Ästhetik ab. Grosz kehrte 1959 nach Berlin zurück, wo er nach einigen Wochen im Juli verstarb. Nach einem Gespräch mit dem Kritiker Martin Buttig und einer durchzechten Nacht stürzte iGeorge Grosz n seiner Wohnung die Treppe hinunter – als er am Tag darauf gefunden wurde, war es zu spät.
Alexander Kluy – George Grosz, König ohne Land – erschienen bei DVA-ISBN 978-3-421-04728-1476 × 268