Die geheime Sprache der Kunst

Die Symbole der abendländischen Malerei

Ein kenntnisreicher Führer von Sarah Carr-Gomm

die geheime sprache der kunstEin kenntnisreicher und informativer Führer zu den Geheimnissen der großen Symbole und den Deutungsmustern der abendländischen Malerei

Dieses für jeden Kunstliebhaber wertvolle  Buch bietet erstmals eine höchst kenntnisreiche, informative und leicht zu lesende Einführung in die bekannten und unbekannten mythologischen, religiösen, historischen und symbolischen Traditionen, welche die berühmtesten Künstler aller Zeiten kannten und nutzten und die auch heute noch in der Kunst zitiert werden.
Der interessierte Leser und Kunstliebhaber findet in diesem reich bebilderten Band sehr detaillierte, umfassende Erläuterungen zu vielen berühmten Gemälden und enthält weiterhin etliche kenntnisreiche Analysen von mehr als fünfhundert Symbolen und Allegorien aus Jahrhunderten künstlerischen Schaffens im Abendland.
Thematisch ist das großartige Buch in fünf ausführliche Kapitel gegliedert: die Mythen und Sagen der Antike; Die Bibel und das Leben Christi; Heilige und ihre Wunder; Geschichte, Literatur und Kunst; Symbole und Allegorien.

Ein überaus lehrreicher und unterhaltsamer Lesestoff, hervorragend präsentiert und eine Fundgrube für jeden Kunstliebhaber. Ein Muss für jeden, der die große Kunst der vergangenen Jahrhunderte besser verstehen und deuten will.

Sarah Carr-Gomm – Die geheime Sprache der Kunst – Bedeutung von Symbolen und Figuren in der abendländischen Malerei – Bassermann Verlag – ISBN 978-3-8094-3091-9 

 

Die DDR und die STASI – Meine Erlebnisse in Ostberlin und Leipzig 1973 bis 1987

Die DDR: 28 Jahre deutsche Einheit

Meine Erlebnisse mit der Stasi in OstBerlin und Leipzig 1973 bis 1987

Der Liedermacher Wolfgang Biermann  – die Älteren der unter uns mögen sich erinnern  – sass bereits nicht mehr in der Chaussestraße 131 und sang zur Gitarre in das Mikrofon seines  Grundig Tonbandgeräts, als ich in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts  das zweifelhafte Vergnügen hatte, in der Hauptstadt der DDR, also in Ostberlin, an einen sogenannten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik zu geraten.

Sonniger Sonntagmorgen in Leipziz 1984.

Die DDR war für uns Studenten im Westen naturgemäß ein geradezu einzigartiges Faszionosum und Paradoxon zugleich. Faszinierend, weil seit über zehn Jahren  verborgen hinter einer Mauer  eine für die sogenannten Bundesbürger nahezu unsichtbare Existenz führend, paradox andererseits weil diese sogenannte Demokratie sich spätestens mit dem Bau der Mauer in Berlin als das zu erkennen gegeben hatte, was sie war: eine Diktatur. Und zwar nicht die vielbesungene Diktatur des Proletariats sondern eine unterdrückerische und menschenverachtende,  geschlossene Veranstaltung der Einheitspartei SED.

Geschlosen und eben auch verschlossen  deshalb, weil den unfreiwilligen Teilnehmern – den Bürger der Deutschen Demokratische Republik – nicht gestattet war, mal eben ein wenig draussen frische Luft zu schnappen. Den freien Blick versperrte eine Mauer, das freie Wort wurde verschluckt.
Freiheit kann eben auch die Freiheit von allem sein. Diese  sogenannte Freiheit als Abwesenheit von  jeglicher individueller Freiheit war  die tatsächliche Lebenswirklichkeit für Millionen Menschen in diesem „Arbeiter und Bauernstaat“, des „ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden“.

Mit Herz und Kopf ansingend gegen die bestehenden Verhältnisse, verschaffte sich der Grosskommunist , Poet und Liedermacher Wolfgang Biermann zuerst in der DDR ein Auftrittsverbot (1965), dann  ein modernes Tonbandgerät nebst Senheiser-Mikrofon aus dem Westen, um frech und frei ab sofort in seinem Wohnzimmer gegen die Betonköpfe der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands anzubrüllen.
Diese schönen, trotzigen Lieder,  signiert mit der  Melancholie des Romantikers, wurden dann zur Freude aller westlicher Sympathisanten  von Columbia Records  in Vinyl geschnitten. Naturgemäss beim Klassenfeind in der BRD.

Es waren vor allem  auch diese freimütigen, unzensierten und bissigen Gedichte, Lieder und  diese flamboyante Kritik am real existierenden Sozialismus in der DDR, die in der Studentenschaft der BRD  mehr Anhänger  inspirierten und mobilisierten als im sozialistischen Osten. Linke Weststudenten und Intellektuelle zog es in Folge  magisch in das Deutschland hinter der Mauer , dort Kontakte suchend und knüpfend, die alltägliche Lebenswirklichkeit zu erkunden, ungefiltert  das sogenannte wahre Leben dieser geschlossenen Gesellschaft im Alltag, in der Praxis und nicht nur in der rotgefärbten Theorie der verschiedenen Parteigänger kennenzulernen.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wohl war !  Und eingedenk  dieser  Dialektik vertrieben sich die Jungs von der Staatssicherheit tagtäglich die Zeit damit zu verhindern, dass die leider notorisch  unzuverlässigen Arbeiter und Bauern ein falsches Leben führten. Denn was richtig war und was das richtige Leben war,  das bestimmte hier  die Partei, die immer Recht hatte. Verkehrte Welt, die platte Dialektik  der Staatssicherheit. So hatte es Adorno eigentlich nicht gemeint und die grosse Sehnsucht nach dem falschen Leben sorgte nicht nur in der Chausseestrasse 131 für kreativ subversive Umtriebe.

Torgau an der Elbe. Der Gedenkstein unten rechts im Bild erinnert an das Zusammentreffen der amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte  am 25. April 1945 in Strehla bei Torgau.

 

Gesungen wurde in Biermanns guter Stube bis zum Herbst 1976  auch immer von der Stasi . Die „Stasiballade“ war mit Wortwitz und Ironie eine bitterböse Abrechnung mit dem Unterdrückungs- und Überwachungssystem der DDR mit seinen  zahllosen und allgegenwärtigen Spitzeln und Zuträgern. Gewiss, aufgefallen war  den Intellektuellen in der BRD durchaus,  dass die Wirklichkeit in der DDR dem hohen Anspruch der sogenannten Genossen im Politbüro nirgendwo genügen konnte. Woraus sich unter anderem ergeben musste , dass  „solange der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang hinter dem Masstab eines gerechten Lebens zurückfällt, es für die Menschen gar nicht möglich ist, moralisch richtig zu handeln!“
 Da schau her.
 Jede Trennung des moralischen Prinzips vom gesellschaftlichen hat auch den Verzicht auf menschenwürdige Verhältnisse zur Folge. Hören wollte man solche Theorien in Ostberlin ungern.
Die wohlwollende Sympathie, mit welcher der  in der DDR angeblich  real existierende Sozialismus von den westdeutschen Intellektuellen betrachtet wurde,  trieb oftmals seltsame Blüten. Viele aber hofften mit Biermann unverzagt auf die zukünftige  Besserung der Verhältnisse:
„Wir machen hier Sozialismus,
trotz Rotz und Stalinismus
und öffnen uns noch die Welt !“
( enfant perdu )
Die Milchbar „Espresso“ in Ostberlin
Es war gegen Ende des Jahres 1974, als ich erstmals in Kontakt mit der Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik geriet. Ich trank einen Kaffee in der neuen Milchbar „Espresso“ am Alexanderplatz, nachdem ich meine erste Runde im Panoramacafe des neuen Fernsehturms gedreht hatte und den klaren Blick hinüber ins westliche Berlin genossen hatte. Diese erste Ansprache war leider ebenso plump wie vorhersehbar, denn der Stasi-Mitarbeiter war ja als solcher  sowohl in Berlin Ost als auch in Leipzig überall und jederzeit sofort erkennbar an seinem „unauffälligen“ Herumlungern bevorzugt in den von  Touristen frequentierten Lokalitäten sowie an den öffentlichen Treffpunkten Alex, Unter den Linden et al. Der junge Mann, er nannte sich Sascha, sprach mich  freundlich an meinem Tisch an. Er hatte mich selbstverständlich  als „Westler“ erkannt , was er mir nun auch sofort kundtun musste. Dass ich ihn ebenfalls auf den ersten Blick als Stasi-IM enttarnt hatte, verschwieg ich naturgemäss. Ich gab den naiven Westdeutschen, auf Sightseeing im neuen Zentrum der DDR-Metropole und lobte über die Maßen den Kaffe im sich ewig drehenden  Fernehturm-Cafe. Er war scheinbar begeistert ob meines Lobes.
Weimar zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik 1984.

Meissener Porzellan 

Sich anschloss ein Spaziergang in der Septembersonne Unter den Linden, denn ich suchte hier nun gezielt ein Geburtstagsgeschenk für meine Mutter. Warum nicht aus der Hauptstadt des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates ? Die grossen Schaufenster der offiziellen Verkaufstelle der Meissener Porzellanmanufaktur zogen mich magisch an, etwas zum Unwillen meines unfreiwilligen Fremdenführers: „Meissner darfst Du nicht exportieren, das werden sie Dir sicher an der Grenze wegnehmen“.

Ich ging trotzdem hinein, er folgte schweren Fusses. „Ich kaufe immer soviele Bücher, da werde ich eine kleine Vase sicher ganz gut verstecken können“ erwiderte ich unbesorgt und erstand eine etwa fünfzehn Zentimeter hohe Vase, welche ich besonders sorgfältig und liebevoll verpacken ließ. Sie kostete stolze hundertachtzig Ostmark ! Da ich unerlaubterweise meine Ostmark in Westdeutschland zum Kurs von eins zu sechs eingekauft hatte, zahlte ich also lediglich dreissig Westmark für das gute Stück.

Dieser heimliche Devisentransport war damals für einen armen Studenten unerlässlich, wollte er möglichst billig möglichst viele Bücher im Osten einkaufen. Gab ja Klassiker, Kunst und Literatur in Hülle und Fülle ( sogar Arno Schmidt !!!), auch interessante Lizenzausgaben. Und zur Tarnung immer ein paar blaue Bände Marx und Engels obendrauf . Drei Bände Kapital stabilisieren das Regal – und erfreuten den Grenzer.

Der arme Student kam glaubhaft rüber, ich fuhr schliesslich R4 ! Glaubhaft rüber kam bei mir auch das Angebot meines treuen Stasi-Begleiters, mir doch lieber die kostbare Vase per Post nachzusenden: „Da kannst Du sicher sein, dass sie auch ankommt ! Die machen doch eh nur Stichproben bei der Post.“ Dass die Vase sicher ankommen würde glaubte ich ihm naturgemäss sofort .

Zehn Tage später war sie da. Die Stasi war in jeder Hinsicht zuverlässig . Meine Mutter war begeistert !

Es folgten mehr oder weniger regelmässige Postkarten bis im darauffolgenden Sommer eine Einladung nach Ostberlin folgte. Er würde sehr gern auch einmal meine Frau kennenlernen und uns zu seinem Geburtstag einladen, es seien ja nur 300 Kilometer von Hannover und so weiter… . Kam ein bisschen plötzlich, diese recht private Einladung, aber wir nahmen an.

„Sehr gern“ sogar, wie meine Frau hinzusetzte. Sie war in der Tat sehr neugierig auf Ostberlin und die DDR !

Grau und kalt war der März im tristen Zentrum Dresdens 1986. Fotos: Jürgen Mügge.Luttermann

folgt:

Ein denkwürdiges Abendessen in den „Zille Stuben“

Die Stasi und die Galerie EigenArt in Leipzig 1987

Townes van Zandt: words & letters

The Poet’s Poet

 

War Townes Van Zandt besser als Dylan?

Sein eigenes Leben schien oft die traurigste Ballade zu sein, aber dieser melancholische Poet und Songwriter aus Texas war die wahre Stimme der amerikanischen Country-Musik.
Ich erinnere es, als wäre es gestern gewesen. Eines sehr späten Abends im Jahr 1995 verließ ich mit meiner Freundin den Jazzclub in Bonn, als mir ein schäbiges Plakat über dem Ausgang ins Auge fiel – oder besser gesagt, es war der Name der dort fett gedruckt zu lesen war: Townes van Zandt.
„Was, der tritt hier auf? Hier in Bonn?“ fragte ich total verblüfft meine Begleiterin, die ahnungslos mit den Achseln zuckte. Aber ja, da stand es schwarz auf gelb mit Datum, es musste wohl stimmen.  Bis dato kannte ich nur die Texte von ihm, Emmylou Harris hatte seine Lieder gesungen und auch der große Bob Dylan hatte schon Texte von ihm vorgetragen (wenn ich nicht irre).
Wenige Wochen später stand er in Bonn auf der Bühne, schmal und zerbrechlich mit seinem schüchternen Lächeln und seinen abgewetzten Jeans. Keine Posen, no useless speeches. Er sagte knapp den Titel des Songs an, hob die Gitarre und begann eine Performance, die mich auf der Stelle umhaute, wie gesagt wird. Und das Beste war: Genau das hatte ich erwartet. Es wurde ein unvergesslicher Abend mit einem unvergesslichen Sänger. Ach ja, unmittelbar vor dem Konzert war der Veranstalter auf der Bühne erschienen und bat uns, Townes van Zandt nach dem Konzert bitte nicht auf einen Drink einzuladen. (Die lange Bartheke war direkt nebenan). Wir hielten uns an die Empfehlung.
Ich habe ihn dann noch einmal in Bonn erleben können in diesem Sommer 95, Townes van Zandt hatte damals eine Freundin in Bonn, wie ich erfuhr.

Das kurze Leben des großen Songwriters Townes van Zandt ist eine Erzählung voller widersprüchlicher Hoffnungen und hasserfüllter Dämonen, aus denen der talentierte, großartige und so sehr geliebte Künstler durch Talent und Ausdauer überwältigende Schönheit hervorgebracht hat.

Von seinen Wurzeln im texanischen Geldadel bis hin zu lähmenden Schocktherapien und dem langsamen whiskeygetränkten Niedergang scheint Van Zandts Leben eine ebenso kühne wie  melancholische Ballade in der traurigsten Tradition zu sein. Für einen Musiker, der im weitreichenden, dunklen Schatten von Hank Williams lebte , könnte man versucht sein Van Zandts tragisches Leben fatalistisch hinzunehmen. Braucht nicht jeder gute Country-Sänger Geschichten von whiskeyschwangerer Einsamkeit und dem unvermeidlichen Liebeskummer? Warum ein bewährtes Rezept verändern?

Aber jeder, der Townes van Zandts durchaus ungleiche, aber unvergleichliche Aufnahmen zum ersten Mal hört, weiss sofort, dass hier ein anderer Ton angeschlagen ist, unvergleichlich, zärtlich, rauh, nichts was einem Trost spenden würde.

„Townes Van Zandt ist der beste Songwriter der Welt und ich stehe auf Bob Dylans Couchtisch in meinen Cowboystiefeln und sage das“, konstatierte  ein für allemal  sogar der unbescheidene Steve Earle.

Sicherlich kann manches von Van Zandts Aufzeichnungen den Hörer an manches von Dylan erinnern, aber der Ton ist ein völlig anderer in jedem seiner Songs und Texte. Die Texte transportieren oft aufgeladene Bilder und Traumvisionen in einer Stimmung, die ohne jede Anstrengung  – leichter als Dylan es konnte –  den Mann selbst herauszubringen. Die ganz frühen Aufzeichnungen wurden schon durch diesen einzigartigen Ton und Stil diktiert, und Van Zandt hätte  bereits damals leicht als ein ernstzunehmender Anwärter auf Dylans Thron zu einer Zeit betrachtet werden können, als es sicher keinen Mangel an diesem Ehrgeiz gab. Das war zumindest der erste Eindruck, den ich von seinen frühen Studioalben hatte.

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Dieser Eindruck erwies sich jedoch als nicht ganz stimmig. Je mehr diese Platten überarbeitet werden, desto mehr scheinen die Streicher, die Flöten, die witzigen und sentimentalen Texte neben etwas Unbegreiflichem zu stehen. Es entsteht ein Eindruck  von unvollständigen und manchmal auch irritierenden Bildern. Es gibt auch sehr simple Songs und Texte hier, aber sie sind bis heute einfach unerreichbar.

Allerdings Cathleen und Tecumseh Valley  kommen sofort als echte Explosion rüber. Cathleen malt eine bleierne, schier unheilbare Melancholie, ohne in tränenreichem Mitleid zu versinken. Die poetische Bildsprache wird durch das einfache Sprechen fundamental:

„Vielleicht werde ich verrückt werden. Ich muss diesen Schmerz töten.“

Auch die Evokation der üblichen unglücklichen Charaktere (Spieler, Prostituierte) ist immer ohne begleitenden Narzissmus. Tecumseh Valley artikuliert die Ballade über das Lebens eines anderen mit  Respekt, Zurückhaltung und Empathie. Es ist stark genug, um Dich an einen Ort  Deiner Einsamkeit zu erinnern .

Nachdem Sie diese Dimensionen in der Musik gehört haben, möchten Sie am liebsten sofort all die Flöten und Streicher vertreiben und klar und deutlich hören, worum es bei Townes Van Zandt wirklich geht. Genau das passiert bei Live im Old Quarter, eine Aufzeichnung, die berechtigterweise als seine beste gilt.

Dies ist der Ort, an dem die Songs, die Sie gehört haben, wie ein Flüstern in all ihrer einzigartigen Pracht erblühen. Es ist plötzlich klar, dass Van Zandts Musik so aufgeladen ist, dass sie als Solo-Performance gehört werden muss. Diese aufgenommene Show öffnet die gesamte Landschaft. Songs, die im Studio halb erstickt worden sind, erweitern sich nun zu einem bemerkenswerten Terrain. Wenn man es hört, bekommt man den Eindruck, dass hier jemand zwischen sehr gefährlichen Extremen balanciert: Es gibt Lieder von Jubel und Freiheit – White Freight Liner Blues, To Live to Fly – und Lieder der trostlosesten Traurigkeit – Waitin around to die. Van Zandt hört sich hier an, als ob er diese ständige Berg- und Talfahrt, seine Highs und Downs  einfach in rohem, ungeschöntem Zustand vor uns ausbreitet. Und er nimmt dabei weder Rücksicht auf uns, noch auf sich selbst.

Nicht alles ist voller Traurigkeit. Obwohl nicht unmittelbar erkennbar, gibt es hier auch einen reichen Humor, der an den texanischen Blues-Meister Lightnin ‚Hopkins erinnert. Es war Hopkins bittersüßer Stil, der Van Zandt dazu inspirierte, dieser Musik nachzugehen, und die Nummern von Lightnin tauchen daher auch häufig auf den Live-Aufnahmen auf. Wenn Sie Live im Old Quarter aufmerksam lauschen , ist eine ungewöhnliche Entwicklung zu hören. Während seine Vocals und sein musikalisches Können zunehmend von einem unerbittlichen harten Leben gezeichnet sind, werden Van Zandts Songs immer stärker, je mehr Narben ihm die Jahre zufügen. Zum Beispiel wäre es wohl sehr schwierig, eine härtere Darstellung der grassierenden amerikanischen Armut zu finden als im Song Marie.

Während manchen Sängern die Fähigkeit zugeschrieben wird, zu den Charakteren zu werden, die sie darstellen, konnte es keiner mit dieser Empfindsamkeit vollziehen. Das Lied erinnert stark an Hank Williams Life’s Other Side mit dem zum Scheitern verurteilten Protagonisten, der Dir  unverwandt in die Augen schaut, während er seine trostlose Geschichte ausbreitet. Man fragt sich unwillkürlich, ob Dylan jemals den mitleidlosen Geist des Blues zu solch furchtbarem Effekt hätte heraufbeschwören können.

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Townes van Zandt starb in der Nacht des 31. Dezember 1996 in Smyrna Texas

Eine weitere, seltene Live-Aufnahme: Townes van Zandt – Abnormal erschien bei

c/o NORMAL MAIL ORDER – Bonner Talweg 276 – 53129 Bonn – Tel: 0228-220655

 

Kommentar von almathun:

 

Leider habe ich van Zandt nie live gesehen, bin eher zufällig auf ihn gestoßen, da war er aber schon tot. Townes Van Zandt war für einen Countrysänger ungewöhnlich intelligent, was sich in seinen Texten oft als schwermütige Ironie aber auch verhohlener Humor niederschlägt. Seine Sprache deutet darauf hin, dass er eine gute Bildung genossen und auch mal ein paar Klassiker gelesen hat. Leider war er nicht intelligent genug, die Drogen sein zu lassen, was ihn ja dann recht früh ins Grab befördert hat. Besonders sehenswert finde ich die wunderbar poetische Bio-Documentary „Be Here To Love Me“ von Margaret Brown. In Verbindung mit den Bildern wirkt die Musik noch eindrucksvoller. Die Kinder können einem leid tun.

Daniel Kramer: Bob Dylan 1965

A Year and a Day

Bob Dylan 

daniel kramer-bob dylanvon Newport bis Woodstock

Daniel Kramer

brauchte eine sehr lange Zeit  um Bob Dylan breitzuschlagen ein Termin für ein erstes FotoShooting zu vereinbaren. Es war Anfang 1964, einige Monate bevor Bob Dylan zum hellen Entsetzen der Folk-Puristen zur elektrischen Gitarre greifen sollte.

 Kramer, ein bekannter Fotojournalist, der sich auf Künstlerportraits spezialisiert hatte, wusste nichts von Dylan, bevor er ihn das  Lied The Lonesome Death of Hattie Carroll in der Steve Allen Show singen hörte.

„Dann fing ich an, regelmäßig Briefe zu verschicken und mit dem Büro von Dylans Manager Albert Grossman zu telefonieren um eine einstündiges Fotoshooting zu bitten“, erinnert sich Kramer. „Das Büro hat immer abgelehnt.“

Aber sechs Monate später, als Grossman selbst den Anruf  entgegen nahm, änderten sich plötzlich die Dinge. „Er sagte geradeheraus: „OK, komm nächsten Donnerstag nach Woodstock ‚“, erinnert sich Kramer.

bob Dylan - Highway 61 revisited

Bob Dylan – Highway 61 revisited – Foto: Daniel Kramer

Es sind schwarz-weiss Aufnahmen, die die vibrierende Atmosphäre und die explosive Aufbruchstimmung dieser Ära perfekt eingefangen haben und uns den Bob Dylan präsentieren, wie wir ihn am Beginn seiner stürmischen Karriere in Erinnerung behalten haben. Mit seiner eindringlichen Präsenz, seiner Entschlossenheit, Arroganz und Unberechenbarkeit, die auch seine Songs dieser Jahre auszeichnete, nachdem er sich geweigert hatte, die Fesseln der Folkmusik-Szene zu akzeptieren und mit einem beherzten Griff zur elektrischen Gitarre einige deutliche und harte Statements zum Stand der Dinge zu Gehör gebracht hatte. Highway 61 revisited nannte man dieses atemberaubende Album, Dylan kehrte der romantisierenden Folkszene den Rücken zu, nachdem er doch gerade wenige Monate zuvor zusammen mit der bereits berühmten Folk-Ikone Joan Baez, deren support er gern akzeptiert hatte, beim Newport Folk Festival die Bühne betreten hatte.

Von nun an war jedem klar, dass hier ein Künstler angetreten war, der sich von nichts und niemandem vereinnahmen lassen würde. Er schrieb und sang sogenannte „Protestsongs“ lehnte es aber in Interviews mit breitem Grinsen konsequent ab, als politischer Protestsänger abgestempelt zu werden. Nach seinem Leben befragt, erfand er die tollsten Geschichten und er log, dass sich die Balken biegen, wenn es darum ging seine Legende fortzuspinnen. Bob Dylan erfand sich scheinbar mühelos mit jedem  Song neu und hielt seine Fans und Kritiker immer schön auf Trab.

Dieser umwerfende, unbekümmerte Märchenerzähler  überraschte und verzauberte zu Beginn seiner Karriere seine Zuhörer ebenso wie er auf Anhieb schon beim ersten Fotoshooting den Fotografen Kramer in seinen Bann zog. Diese rasanten und auch bewegenden Fotografien sind wie das Logbuch eines atemberaubenden road-trips.

Ein großartiger Fotoband mit vielen bisher unveröffentlichten  Aufnahmen.

Bob Dylan – A Year and a Day – Daniel Kramer – Taschen Verlag – 310 Seiten mit teils großformatigen schwarzweiß-Fotografien.  ISBN 978-3-8365-7100-5

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Abbildungen: Taschen – Columbia Records

Alexander von Humboldt

Alexander von Humboldt

alexander von humboldt-rüdiger schaper-siedler verlagDer Preuße

und die neuen Welten

«Die Welt bedient sich Humboldts, um sich selbst kennenzulernen».

Vor allem lernt die Welt nach 1800 durch Humboldt den südamerikanischen Kontinent in seiner ganzen Vielfalt kennen. Diesem selbstbewussten Diener nicht nur seiner Epoche kommt man in Schapers lesenswertem Buch recht nahe, wenn auch selten so, dass man den Menschen Humboldt hinter dem berühmten Universalgelehrten wirklich kennenlernen würde.

Das Buch gewährt einem von Seite zu Seite immer wieder faszinierende Einblicke in das Schreiben und Zeichnen des unermüdlichen Forschers Humboldt. Nichts konnte diesem gelehrten und an allem interessierten Menschen zu gering oder zu merkwürdig sein, wie sich etwa an der überlegenen Sorgfalt zeigt, mit der er sich dem Körperbau des Wasserschweins widmete, und zwar von den Backenzähnen bis zu den Beinen.

Das Buch zeigt den polyglotten Humboldt auch als Menschenfreund, der er durchaus war. Aber eindrucksvoller noch als überagenden Wissenschafter seiner Zeit, der eine neue Art der wissenschaftlichen Betrachtung des Menschen und überhaupt der «Phänomene des Lebens» im Zusammenhang mit der unbelebten Natur schuf, lange bevor in Europa die «Ökologie» ihren Platz im Bewusstsein der Menschen fand.

Sehr interessante und lesenswerte 284 Seiten, die uns Rüdiger Schaper hier vorlegt und die verführen, mehr über diesen universalen Menschen und Forscher Humboldt zu erfahren.

Rüdiger Schaper – Alexander von Humboldt – Der Preuße und die neuen Welten – Siedler Verlag – 284 Seiten – ISBN 978-3-8275-0074-8

 

Gustav Klimt und die Antike

Erotische Begegnungen

Klimt und die Antike – Bilder einer Ausstellung

klimt und die antike-belvedere museum wien-prestel verlag

Gustav Klimts Beziehung zu den antiken Vorbildern ist nicht so einfach zu entschlüsseln, wie es dem flüchtigen Betrachter erscheinen mag. Seine intensive Beschäftigung mit antiken Mustern und Vor-Bildern erstreckte sich über eine lange künstlerische Laufbahn. Zunächst war sie lediglich auch von Imitation und Studium der Antike geprägt, doch im Laufe der Zeit entwickelte Klimt aus den Grundprinzipien antiker Erotik eine eindrucksvolle und ganz eigenständige Bildsprache.

Die plaudernden Hetären

Zentrum dieser These ist der von Klimt illustrierte Prunkband der Hetärengespräche des Lukian.  Ein Buch von solcher Freizügigkeit, dass es heute kaum lesbar scheint – und auch Gustav Klimt geizte in seinen Darstellungen durchaus  absichtsvoll nicht mit expliziter Nacktheit. Diese  Darstellungen der Plaudereien der antiken Prostituierten und ihre zeichnerische Umsetzung durch Klimt in die Bildsprache der Moderne verweist auf die tiefgehende Auseinandersetzung des Künstlers mit der Erotik in einem Akt emanzipatorischer Aneignung und sowohl künstlerischer als auch individueller  Befreiung.

Gustav Klimt imitierte diese Vorbilder en detail und nutzte manche Elemente immer auch als Zitate in seinen eigenen Arbeiten wie der vorliegende, üppig ausgestattete Band – als Katalog zu einer Ausstellung im Belvedere Museum in Wien erschienen – in hervorragender Weise demonstrieren kann.

Kunstdetektivische Rätsel

Klimts Befreiung, Neubefragung  und Hinterfragung der antiken Prinzipien, die in all seinen Werken zum Tragen kam  mündete in einer atemberaubend neuen Ästhetik, die wiederum nicht ohne Einfluss auf Zeitgenossen blieb und die Moderne prägte. Er arbeitet immer wieder ganz demonstrativ mit der Leere als Fläche. Daraus ergibt sich für den Betrachter eine Einladung, diese Vasen anders zu sehen, nicht als Sammlung von antikenGefäßen, sondern ihre erotische Bilderwelt als inspirative Motive wahrzunehmen.

Es hat ein bisschen den Charakter einer Schatzsuche oder eines kunstdetektivischen Rätsels, wenn man Klimts künstlerischer Entwicklung innerhalb der antiken Welt auf die Spur kommen möchte – und dieses  wunderbare Buch kann die Forscherlust des Lesers immer wieder aufs Neue inspirieren und dem Kunstfreund einen Weg zu aufregend neuen Entdeckungen weisen.

Klimt und die Antike – 260 Seiten – Prestel Verlag – München

Arno Schmidt in Ahlden 1954

Arno Schmidt in Ahlden 1954

   Manches zu Arno Schmidt – Das steinerne Herz

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Das steinerne Herz und die Prinzessin von Ahlden

  Alice und Arno Schmidt fahren am  Sonntag, den 25.Juli 1954 mit der Bahn von Serrig / Saarland nach Hannover, wo  sie im Staatsarchiv bzw. Landesbibliothek angemeldet sind, um einige Staatshandbücher und Archivmaterial zu Schmidts Fouque-Biografie  und zur Prinzessin Sophie-Dorothea von Braunschweig-Lüneburg-Celle – der sogenannten „Prinzessin von Ahlden“ –  einzusehen. Die Anreise von Serrig im Saarland ist damals noch eine sehr lange und strapaziöse Bahnfahrt durch die Nacht. Alice und Arno Schmidt verlassen Serrig am Sonntagabend um 17.34 Uhr, müssen dort noch vor der Abfahrt eine gründliche Zollkontrolle über sich ergehen lassen, denn das Saarland kam erst im Jahr 1957 zur Bundesrepublik Deutschland. Die Fahrkarten für zwei Personen für die 580 Kilometer kosten 130 Mark.

Hannover erreichen sie am Montagmorgen, den 26. Juli. Es erwartet sie im frisch renovierten Bahnhof ein geöffneter Wartesaal, wo sie ein Frühstück, bestehend aus Bier und Würstchen, zu sich nehmen, bevor sie im Dauerregen mehr laufend als gehend die Landesbibliothek erreichen. Ein Schirm wird nicht angeschafft: viel zu teuer ! Der Herr Professor Schnath erwartet bereits den angemeldeten Arno Schmidt, und während er in der Landesbibliothek  Dokumente liest und Abschriften macht, erledigt Alice unten im kleinen Lesesaal die ihr von Arno aufgetragenen Abschriften. In ihrem Tagebuch von 1954 vermerkt Alice Schmidt:

 Und wir arbeiten.  Arno durchsieht ganze Aktenbündel Akten über die Prinzessin von Ahlden. Interessant.  Alles ist aufbewahrt.  Ganz interessante Stücke zeigt er mir zwischendurch mal schnell.  Ich kopiere 8 Staatshandbuchseiten  ….  Aber manchmal kommt doch die Müdigkeit stark durch. Hilft nichts.  –   Nach 14h sind wir fertig.“

Es regnet nicht mehr, also zurück zum Bahnhof. Eine Stärkung mittels Bratwurst und „schlesischer Knoblauchwurst„, die keine war. Arno Schmidt aber geht der Trubel der Stadt Hannover furchtbar auf die Nerven, zumal  gerade Sommerschlussverkauf ist:

Las uns bloß heimfahren. Ich halte mit meinen Nerven keine Großstadt mehr aus „.

Im Aktualitätenkino bringt Arno Schmidt eine Zeichentrickfilm mit dem Titel „Hawaiian Holiday“  jedoch wieder zum Schmunzeln. Um 17 Uhr besteigen sie endlich den lang erwarteten Eilzug von Hannover nach Hamburg über Walsrode und Soltau.

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Alter Holzschuppen am Haus No.31

In Schwarmstedt steigen sie in den Zug nach Verden , und Arnos Miene hellt sich auf:“ Arno ging sein ganzes Herz auf als er die sich jetzt wiedermal auftuenden weiten Wiesen und Wälder Norddeutschlands sah. Und schöne umheckte Weiden warens und schöne hohe Wälder „.

 Ahlden  liegt im Aller-LeineTal zwischen Verden  im Nordwesten und Celle im Südosten. Der kleine Ort, dessen Wurzeln bis ins Jahr 1140 zurück verfolgt werden können, brannte im Dreißigjährigen Krieg vollständig ab, und auch später suchten einige verheerende Brände den Ort heim. Dennoch sind viele historische Gebäude erhalten, entweder weil sie die Brände überstanden, oder weil sie zumeist konsequent danach wieder aufgebaut wurden. Die Alte Leine, eigentlich ein alter Aller-Arm, weist auf die Versuche hin, einen Flussarm der Aller, die nach einem Hochwasser 1618 ihr Bett nach Norden verlegt hatte, durch künstliche Umleitung der Leine weiter zu nutzen. Hier  bietet die Alte Leine auch einen sehr schönen natürlichen Badeplatz. Am nordöstlichen Ufer des Gewässers findet sich eine Liegewiese mit Sandstrand. Zugang über die Leinebrücke Richtung Hodenhagen, dann  links in den  Feldweg. 10 min. Fußweg vom Ortskern.

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Schild am Haus „Thumann“ No.31

 

Heute  ist Ahlden ein Bestandteil des Aller Radwegs und auf diesem durch die Allerwiesen gut zu erreichen. Von Schwarmstedt im Süden kommend wird er im Nordwesten des Ortes auf der Trasse der stillgelegten Bahnlinie Verden-Schwarmstedt nach Rethem (Aller) weitergeführt. Auch der Leine-Heide-Radweg führt durch diesen Ort, in etwa 11 km von Schwarmstedt kommend und weiter nach Hodenhagen (2 km) und Soltau (40 km) führen. Durch Ahlden führt eine Variante des Jakobsweges, des Jakobuswegs Lüneburger Heide, auf dem Abschnitt von Hittfeld nach Mariensee.

Um 18Uhr20 am 26. Juli 1954 kommen Alice und Arno Schmidt in Ahlden an und kehren sogleich in den „Gasthof zum Bahnhof“ ein. Das Zimmer unterm Dach mit Blick über die Linden auf den Flecken Ahlden kostet pro Nacht vier Mark . Arno:  „was? 4 Mark ? Haben Sie sich auch nicht geirrt ? „
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Fachwerkgiebel in Ahlden
 „Prächtig diese Fachwerkhäuser. Was für ein hübscher Anblick bildet so eine Straße ! Giebel (mit Walmdach) meist auf die Straße zu. Hier gabs keine Misthaufen !  “  
 Bevor das Tageslicht schwindet machen Alice und Arno noch einen kleinen Spaziergang:
 „Arno sagt, er erinnere sich an diese Straße (Teerstraße) noch sehr gut denn über die wären wir, von Rethem kommend, tandemiert. Ab und zu schöne Bänke im Hain“.
  Alice und Arno Schmidt hatten bei Fallingbostel , im Mühlenhof Cordingen, fünf Jahre gewohnt, von dort aus Tandemfahrten unternommen. Schmidt plant, seinen nächsten Roman , der nach diversen Arbeitstiteln schließlich „Das steinerne Herz“ heißen wird, hier in dem kleinen norddeutschen Flecken Ahlden anzusiedeln.
„Das steinerne Herz – ein historischer Roman aus dem Jahr 1954
ist naturgemaess kein wirklicher „historscher Roman“ sondern die Geschichte  eines
 sonderbaren Sammlers alter Bücher, der sich  in Ahlden bei einem Ehepaar einquartiert, in deren Besitz er einige begehrte Folianten vermutet.
 Sein – wie auch des Autors – bevorzugtes Interesse gilt speziellen Ausgaben der „Hannoverschen Staatshandbücher„.   Der Protagonist des Romans, Walter Eggers  (alter ego ) , ist wie schon in „ Brand’s Haide“, im“ Faun“ , in  „Schwarze Spiegel“ oder auch dem später erschienenen „Kaff auch Mare Crisium“  ein unbeweibter und wohnungsloser Nachkriegsodysseus; ein   intelligenter, gebildeter und belesener Einzelgänger auf literarischer und erotischer Spurensuche.
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 Ansicht von Ahlden an der Kirche
Die verheiratete , vom Ehemann vernachlässigte  Zimmerwirtin Frieda Thumann ist naturgemäß sofort Objekt der Fantasie und Begierde und der Vollzug lässt auch nicht lange auf sich warten zumal der Ehemann, der als Fernfahrer wöchentlich mit Frischmilch von Rethem nach Westberlin auf den Straßen der Republik unterwegs ist, dortselbst im Ostteil der Stadt seine Geliebte Line unterhält.  Man arrangiert sich nonchalant in zweifach wilder Ehe. Eine für das Jahr 1954  äusserst kühne  Wohngemeinschaft. Alfred Andersch bezeichnete “ Das steinerne Herz “ als Arno Schmidts bis dahin erotisch verwegensten Roman.
Was hat die Partei auf ihre Fahnen geschrieben? „- (Karl verdutzt vorm weit geöffneten Radio); „die sexuelle Befriedigung aller Staatsbürger ?!“  („Die materielle Mensch !“) Und er enttäuscht: „Och so.“
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Schloss Ahlden
 Die ganze Handlung der Geschichte ist einfach  und kolportagehaft, der teils sarkastische Humor jedoch und die gnadenlose Kritik an den bestehenden Verhältnissen der Nachkriegsjahre unter Adenauer geben dem Roman die schmidt-typische Schärfe und Frische der frühen Erzählungen. Ganz abgesehen davon, daß Schmidt auch dieser Roman als Folie dienen muß, seine immer mal wieder proklamierte  intellektuelle  Überlegenheit schon in den ersten Zeilen auszubreiten:
 “ ( Intelligenz lähmt, schwächt, hindert ?: Ihr werd`t Euch wundern!: Scharf wie`n Terrier macht sie !! ) „
 Schmidts Ausdrucksform – wie in den „Berechnungen“ ausführlich dargelegt – ist expressionistischer  geworden  ( teils durchaus mit unfreiwillig komischen Effekten ), das „längere Gedankenspiel“  gewinnt Raum; seine exzentrische Interpunktion kann über die Länge eines Romans  jedoch auch den geneigtesten Leser ermüden.
 Arno und Alice Schmidt setzen ihre Recherche in Ahlden fort, sie spazieren am Eichenhain entlang, vorbei am alten Kriegerdenkmal, an welchem Arno Schmidt naturgemäß die Namensliste der Gefallenen sehr interessiert. Die Fachwerkgiebel faszinieren mit ihren alten Inschriften, aber vorerst geht es über die zum Wochenende stets frisch gefegten Bürgersteige direkt zum Schloss Ahlden:
 „Alles schön sauber.  Sahen uns aber zunächst noch nicht viel um sondern wollten ja zum Schloss. Und da war’s. Zum 3.x sahen wirs jetzt.“
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 Der  zweigeschossige Bau stammt aus verschiedenen Epochen. Um 1290 entstand hier eine Wasserburg. 1579 wurde der Südflügel in Fachwerkbauweise errichtet. Es folgten 1613 der Hauptflügel in Ziegelstein und Fachwerk sowie etwa um  1700 der Nordflügel des Schlosses Ahlden. Zur endgültigen Fertigstellung im 17. Jahrhundert wurden die Überreste der zerstörten nahegelegenen  sogenannten Bunkenburg genutzt.

Berühmt wurde das Schloss Ahlden als Verbannungsort der Celler Herzogstochter Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg , der Gattin des Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover (später Georg I. von England) der sogenannten „Prinzessin von Ahlden“.

Die unglückliche Ehe und die daraus resultierende Affäre mit dem schwedischen Grafen Königsmarck trugen ihr  wegen erwiesenen Ehebruchs die lebenslange Verbannung ein (von 1694 bis 1726). Dieser Ort war Schauplatz einer echten Tragödie und machte das Schloss berühmt. Danach war das Schloss Dienstwohnung der Landdrosten und ab 1788 Amtssitz und Gefängnis. Seit 1310 wurde in Ahlden Recht gesprochen. Früher im Freien, danach bis 1972 im Amtsgericht  im Schloss.
 In den Räumen des Schlosses Ahlden war 1954  noch das Amtsgericht untergebracht. Ein anwesender älterer Mann entpuppte sich als Wachtmeister Skusa, der dort im Schloss wohnte und dann und wann auch den Fremdenführer gab. Arno Schmidt kam mit ihm sofort in ein Gespräch, wusste ihm auch einiges Neues zu berichten. Der Wachtmeister führte sie in die oberen Schlossräume, wo Alice Schmidt zu ihrem hellen Entzücken sogleich  einen alten Porzellankamin und Delfter Kacheln entdeckt. Schließlich sehen sie die Wohnräume der verbannten „Prinzessin von Ahlden“ :

Dann war der Schlafraum der Prinzessin mit einem nicht besonders tiefen Alkoven in dem das Bett gestanden.  Sehr viel Platz hat sie darin nicht gehabt. …. Als einzige Erinnerung an seine Bewohnerin hing nur ein Stich, ihr Porträt, da. Eine dunkle, mit Blumen geschmückte Schönheit . – Im Nebenraum … war sie als Leiche aufgebahrt. –  So, wieder hinunter“.

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Der Morgenspaziergang führt sie naturgemäss sofort wieder zum Schloß Ahlden , wo sie auch den Amtmann wiedersehen, der ihnen noch einige alte Bäume an der alten Leine zeigt. Sie „knipsen“ das Schloß von allen Seiten  bevor sie zum Mittagessen in den Gasthof zurückkehren. Es erwartet sie dort ein üppiges Mittagsmahl, bestehend aus Koteletts, neuen Kartoffeln und Blumenkohl, in den kleine Fleischbällchen hineingesteckt sind:

“ Sah frappant aus und schmeckte auch gut. Salat noch……ein Ortsansässiger erzählt, könne sich erinnern, wie in seiner Jugend noch Leute im Ort gewesen wären, die Sachen v. der Prinzessin gehabt hätten  „.

Sie gehen nochmals durch den Flecken Ahlden: Arno Schmidt nummeriert auf einer von ihm selbst gezeichneten Kartenskizze des Ortes alle Häuser durch, Alice notiert zu jedem Haus die ihr von Arno diktierten  Beschreibungen und Anmerkungen. Das alte Wappen der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg  Celle von 1613 an der Schloßfassade wird abgelichtet sowie auch das Schloß von der alten Leineseite aus fotografiert.

 

Das Wappen der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg  1613  an der Schloßfassade

Weiter gehts vorbei am Drogisten, an der Sparkasse „( mit dem hübschen alten Holzbalkönchen)“. Im kleinen Eisladen, einem netten Lokälchen, setzen sie sich und essen jeder einen Becher Eis: “ Donnerwetter, das schmeckt aber gut ! “

Vom Eisverkäufer, einem Flüchtling aus Ostpreußen müssen sie erfahren, daß ihm zum Jahresende die Pacht gekündigt wurde; er muß künftig anderenorts  sein Glück suchen. Überhaupt treffen sie auf mancherlei entwurzelte und zerrissene Nachkriegsexistenzen in dem kleinen Flecken am Rande der Heide. Ein siebenjähriger Junge aus der Familie der Gasthausbetreiber starb vor einer Woche  an einer Blutvergiftung nachdem er sich bei einem Sturz eine leichte Knieverletzung zugezogen hatte. Die Stimmung ist gedrückt.

Der Rundgang durchs Dorf wird fortgesetzt, die Route durch Ahlden wird von Alice Schmidt in ihrem Tagebuch sehr ausführlich geschildert. Es gibt ja mittlerweile auch websites, auf denen jeder einzelne Schritt des Dichters akribisch vermerkt ist ! Notizen werden dabei  von Alice Schmidt, teils nach Diktat, eifrig gemacht sofern es ein stellenweise  niedergehender Regen erlaubt; es wird eifrig geknipst. Das komische, turmartige Spritzenhaus, in dem die Schläuche zum Trocknen hängen, die Kirche. Das Kaufhaus Wilhelm Gellermann hat eine hübsche  Dekoration zum Schlußverkauf in dem Fenster, was Alice eine ausführliche Anmerkung wert ist.. Dann geht es rechts hinüber zum Büchtener Holz und zurück, schräg gegenüber sehen sie die „Bunkenburg“.

verwirrende Sagen der Einwohner: dort hätte das Schloß eines Raubritters gestanden Arno hält das für strategischen Wahnsinn“.

Nun gilt es noch, für den neuen Roman  „Das steinerne Herz“ das Haus des Romanhelden Walter Eggers auszusuchen. Sie einigen sich auf ein eher unscheinbares Haus  Nr. 31 am Ende einer Straße mit weitem Blick über Wiesen, Viehweiden und umheckte Felder und einem Hof dahinter, Arno Schmidt gefällt der Ort sofort. Und daneben so eine lange, schwarze Holzscheune.

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Und bunte Kühe stehen auch herum, und in manchen Weiden auch Pferde. Alles wird fotografiert, insgesamt drei Filme sind nun voll geworden und werden in einem Karton nachhaus geschickt; sie wollen  diese wichtigen Dokumente vorsichtshalber nicht nach Ostberlin, in die damals  sogenannte „sowjetische Besatzungszone“, mitnehmen.

„Wenns verloren geht, war die ganze Reise umsonst“.

Arno Schmidt und die internationale Moderne von Friedhelm Rathjen lesen Sie hier

Samuel Beckett in Frankreich

Jo Baker 

jo baker - ein ire in paris - roman - knaus verlag Ein Ire in Paris

Es ist immer ein Wagnis zu versuchen, in den Kopf eines Mannes einzutreten, der für seinen lebenslangen Rückzug und sein Schweigen bekannt war, aber Baker gelingt es glänzend in einer Prosa, die sowohl intim als auch streng ist, mit einer unaufdringlichen, typisch Beckettschen Stimme.

Im Mittelpunkt des Romans steht Becketts Beziehung zu Suzanne, einer lebenslangen Begleiterin und später seine Frau, von der er 1939 in einem Brief an einen Freund schrieb:

„Es gibt da auch eine Französin, die ich leidenschaftslos mag,  die ist sehr gut zu mir. “

Sein Bedürfnis nach Einsamkeit und Distanz stellt sich gegen ihre Kombination aus Unterstützung und Verzweiflung. In seine Notizbücher spähend, die schwarz sind von den unzähligen Streichungen, kommt ihr einmal der  bestürzende Gedanke, dass

alles, was hier erreicht wurde,  nichts sein könnte als die Verschwendung von Papier, Tinte und Zeit „. 

Am Ende des Krieges gibt es tatsächlich eine Kluft zwischen ihnen, sowie eine bekannte, erschöpfte Vertrautheit. Es gibt einen sehr bezeichnenden Moment, als sie vor den anrückenden  Deutschen fliehen. Er streckt ihr den helfenden Arm entgegen, sie überlegt für den Bruchteil einer Sekunde, ob es nicht besser wäre, diese ausgestreckte, helfende Hand nicht mehr zu ergreifen. Aber naturgemäss greift sie zu. Sie lassen nicht voneinander.

„Warten auf Godot“ diese  Metapher für die lange Wanderung  ins Roussillon. Baker nimmt den Titel des Originals „A Country Road, a Tree“ von der knappen Beschreibung, die den Schauplatz zu Beginn des ersten Aktes skizziert, und Becketts und Suzannes ermüdenden Streit darüber, wo sie die Person treffen sollen, der sie über die Grenze in die Freiheit bringen wird, nimmt schon die berühmte Szene von Vladimir und Estragon vorweg.

 „Monsieur wird sicher morgen kommen“, sagt Beckett. „Es ist morgen“, antwortet sie. 

Der Leser ist mittlerweile daran gewöhnt, die Schrecken des 20. Jahrhunderts aus der Distanz zu betrachten – wie die Flucht aus Paris beim Herannahen der deutschen Truppen, den Beckett hier als „Müllhalde, ein Haufen Müll“ erlebt, das Elend einer fliehenden Menschheit.

Eine Kriegsbesessenheit mit zerlumpten Stiefeln und wunden Füßen, mit Rüben, die von Feldrändern gesammelt wurden, die in den Mund gestopften kleinen Steine die den entsetzlichen Durst lindern sollten , erscheinen in späteren Romanen ebenso wie in den Dramen, während Themen von Einsamkeit und Stoizismus von Baker  klar aber unaufdringlich in den Vordergrund gestellt werden. Dieser alte Mann, bei dem Beckett sich unter Dielen versteckt und mit dem er sich eine Flasche zum Pinkeln teilen muss, könnte durchaus ein Charakter aus seinen eigenen Texten sein: „Er furzt nicht so viel, wie man befürchten könnte. „

Im Roman erlebt der Leser Beckett anfangs auch an den Rockschössen und im Schatten des großen  James Joyce in einer Beziehung, die eine fatale Mischung ist aus Anbetung, Dankbarkeit und Groll. (Baker gibt uns ein schön skizziertes Porträt des alternden James Joyce, der ununterbrochen mit seinem unvermeidlichen Stock und seiner Brille herumfuchtelt. Seine Arbeit mit dem Widerstand, diese wortwörtlich „stille Gewohnheit“ ist seine Tugend –  und sie zeigt auch die Kraft der Worte, die eine Welt zu verändern suchen.  Unermüdlich trägt er die Informationen zusammen, die „Flugzeuge aus einem klaren Himmel zaubern.“ Er hält die geheimen Berichte im Murphy-Manuskript versteckt, „was bei weitem der sicherste Ort ist, um etwas zu verstecken, das die Leute nicht lesen sollen“.

Diese eher dokumentarischen Rückblicke gesetzt gegen die freie  Fiktion geben dem Roman einen erhebenden Bogen, wobei er damit auch Becketts berühmter Epiphanie nahe kommt

Baker präsentiert seine Zeit in Roussillon, als er „Watt“  schrieb , als Jahre einer anstrengenden,  geradezu geistesabwesenden Arbeit – nicht als Zusammenbruch. Beckett vewahrte alles bis nach dem Krieg und das erhaltene Rohmaterial ist nichts weniger als sensationell: sich in Bäumen verstecken, um den Nazis zu entgehen, einen Gefährten zu sehen, der sich aus einem Fenster stürzt, ein Grab für tote deutsche Soldaten zu graben , eine Bombe mit Topfgeranien tarnen …  Baker beschreibt das alles in trockenen, ruhigen Tönen und zeichnet Beckett  in seiner später formulierten Haltung

„Ich kann nicht weiter, ich werde weitermachen, ein Akt des Widerstands“.

Muss der Leser sich unbedingt für Beckett interessieren, um dieses Buch zu lesen? Nicht unbedingt, aber es  ist  eine  spannende, großartige und außergewöhnliche Geschichte, die ein neues Licht auf ein verzweifeltes Individuen wirft, das wie wir alle im Lauf der Geschichte gefangen ist, und wie es ihm dennoch gelingt, dieses Leben, seine Einsamkeit und Verzweiflung in Kunst zu verwandeln. Jo Baker ist eine überaus talentiert, seltsame und entschlossene Erzählerin, und ihr Buch fasziniert von der ersten bis zur letzten Zeile.

Jo Baker – Ein Ire in Paris – Knaus Verlag – ISBN 978-3-8135-0754-6

http://www.knaus-verlag.de

Thomas Pynchon über Melancholie

Die Trauer der Moderne

 

„Als  „Bartleby der Schreiber: Eine Geschichte der Wall Street“ 1853 erschien hatte der Dämon Melancholie den letzten religiösen Anschein bereits verloren und war jetzt nichts Geringeres als ein Verstoß gegen die  vulgären Ausschweifungen einer entfesselten Ökonomie. Mitten im Räuberhauptmann-Kapitalismus entwickelt der Protagonist das, was sich als die finale Tristesse erweisen soll.

Es ist wie eine dieser Erzählungen, in denen der Desperado immer wieder die Art von Entscheidungen trifft, die ihn unausweichlich dem ultimativen und schlimmen Finale näher bringen.Bartleby sitzt dort in einem Büro an der Wall Street und sagt: „Ich würde es lieber nicht tun.“ Während sich seine Möglichkeiten immer mehr verengen, wird sein Arbeitgeber, ein unantastbarer Mann von einiger Statur, dazu gebracht, die Koordinaten seines eigenen Lebens in Frage zu stellen.

Miserabler Schreiber – dieser Schriftsteller, der, obwohl er naturgemäß zu den Niedrigsten in der Arena des Kapitalismus zählt, sich standhaft weigert,  weiterhin mit der herrschenden Ordnung zu interagieren.

So stellt sich sofort die interessante Frage: Wer oder was ist schuld an diesen angepassten Feiglingen und Mitläufern, allesamt Personen, die geradezu gednkenlos und gewohnheitsmäßig mit der Wurzel allen Übels kollaborierten und all diese unmoralischen Dinge tun als Gegenleistung für einen Gehaltsscheck und ein schäbiges, stressfreies Leben.

Besser nichts tun? Du beharrst in Trauer? Um in Trauer zu bestehen?

„Bartleby“ ist auch das erste große Epos einer entleerten Moderne, auf das bald Werke von Kafka, Hemingway, Proust, Sartre, Musil und anderen folgen werden. Schauen Sie auf die Liste Ihrer  bevorzugten Autoren und Sie werden sehr schnell den Helden treffen und kennenlernen, der  nicht ohne Stolz, Hochmut und Ironie seine  Trauer trägt, die unserer eigenen Zeit so eigentümlich ist. “

Aus Thomas Pynchons Erzählung: „Sloth – näher meine Couch zu Dir“.

About James Joyce #2

James Joyce

Ein Portrait des Künstlers als junger Mann

 

Vor hundert Jahren sorgte die Veröffentlichung von James Joyces Porträt des Künstlers als junger Mann bei Schriftstellern und Kritikern für solche Bestürzung und Empörung, dass die literarische Welt in den folgenden Debatten über ihre Verdienste und Methoden gespalten war.

Ein Rezensent in beklagte, dass“ sein Stift, anstatt auf die Sterne über ihm zu zeigen, auf einen Misthaufen deutet. Ein einflussreicher Literaturredakteur der Zeit, in einer höhnischen Rezension beurteilte den Roman formlos und schloss, dass „es zweifelhaft ist, ob er aus Joyce einen Romanschriftsteller machen wird.“

Trotz ihrer schonungslosen Kritik haben die gleichen Kritiker die Qualitäten des Romans zugegeben. Man erkannte auch damals durchausdass Joyce „Prosa-Instrument eine bemerkenswerte Krat besitzt. Nur wenige zeitgenössische Schriftsteller sind so vielseitig ; seine Methode variiert mit dem Thema und versagt nie. “

Die stark negativen Reaktionen trotz Joyces literarischer Begabung zeigen, was Literatur wirklich ist. Joyce wurde beschuldigt, die gesellschaftlich akzeptierten Konventionen überschritten zu haben und gewisse ungeschriebenen Regeln, was man äußern konnte und was unausgesprochen bleiben sollte und musste, nicht beachtet zu haben. Das stimmte naturgemäß  und war ein Teil von Joyces literarischen Bemühungen. Der herrschende und beherrschende viktorianische Sinn für „Moral und Anstand“ beruhte auf den überholten Begriffen einer Konvention, die sich in Heuchelei verwandelt hatte.

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Joyces Ziel war es, jene Haltung zu verunglimpfen, die sich als symptomatisch für die Übergänge von der viktorianischen zur modernen Zeit erwies. Trotz und sogar gegen die Versuche, abweichende Stimmen in Literatur und Kunst zu unterdrücken, war es offensichtlich, dass das literarische Feld  von Joyce und anderen völlig neu beackert wurde. Auch wenn  Porträt des Künstlers als junger Mann in der tradierten Form eines Bildungsroman geschrieben wurde, sprach er mit moderner Zunge.

Ein Teil des Grundes könnte auch reiner Rassismus gewesen sein, denn man vergisst leicht,  dass die Iren auch die „kolonisierten“ Menschen ihrer Zeit waren, und auch ein Autor wie James Joyce  wurde mit der Herablassung behandelt, die die Kolonisatoren den Kolonisierten, besonders denen auf dem Gebiet der Literatur, zukommen ließen. Eine frühere Version seines Romans hieß in der Tat Stephen Hero , der Titel der beliebten irischen Ballade Turpin Hero .

Der Protagonist trägt den Namen Stephen Dedalus, der auf den griechischen Mythos des Daedalus anspielt und so den Roman in einen klassischen Bezug stellt. Dem Roman ist eine Inschrift aus Ovids Metamorphosen vorangestellt  .

Daedalus war ein Erfinder, Handwerker und Baumeister aus Athen am Hof ​​von König Minos auf Kreta. Er hatte ein Labyrinth für den König gebaut, um den Minotaurus einzusperren. Er verlor den Schutzdes Königs, nachdem der König entdeckt hatte, dass Daedalus Prinzessin Ariadne geraten hatte, Theseus eine Schnur zur Verfügung zu stellen, damit er nach der Ermordung des Minotaurus den Weg zurück aus dem Labyrinth finden könne.

Der König inhaftierte Daedalus und seinen Sohn Ikarus im Labyrinth. Wissend, dass er seinem architektonischen Wunderwerk nicht entkommen konnte, baute Daedalus riesige Flügel mit mit Wachs verklebten Korbweidenästen. Daedalus und Ikarus flohen aus dem Labyrinth, trotzten der Schwerkraft und gewannen die Freiheit. Doch Ikarus, der entgegen dem Rat seines Vaters der Sonne zu nahe kam, ging zugrunde. Die Inschrift beschreibt diesen kreativen Moment, als Daedalus den Prozess der Zusammenstellung der Zweige einleitet, um die Flügel zu formen.

Die Inschrift und der mythische Name, dessen wörtliche Bedeutung „listiger Kunstfertiger“ ist, bilden den Rahmen, in dem der Roman und der Protagonist angesiedelt werden sollen. Die Motive des Gerissenen, Erfindungsreichtums, der Freiheit, des Labyrinths durchdringen die Erzählung.

Die Geschichte des Romans ist einfach und zeigt die Entwicklung des Protagonisten von der Kindheit bis zur Jugend, als er seine künstlerische Berufung entdeckt. In der Eröffnungsszene trifft die äußere Realität auf Dädalus ‚kindlichen Geist, imitiert von der Sprache und den syntaktischen Strukturen. Während sich sein Bewusstsein entwickelt und er intellektuell reift, werden Sprache und Bilder zunehmend komplexer und zeigen, wie Ideen und Realität im menschlichen Verstand heranreifen.

Während er liest und reflektiert, wird er sich der Macht der Ideen und seines eigenen Intellekts bewusst. Überall um ihn herum muss er sich mit der politischen, sozialen und religiösen Welt Irlands auseinandersetzen. Trotz seiner wachsenden Einsichten sieht er sich von allen abweichend. Hier bieten ihm Kontemplation und Analyse Trost und führen ihn zu einem neuen Weg, als er instinktiv die Heuchelei und die Falschheit der Lebenssituation seiner Zeitgenossen spürt.

Er erkennt, dass die Sitten und Normen dieser Gesellschaft in einer überkommenen Welt und in falscher Ethik und Moral verwurzelt sind. Diese schaffen die Labyrinthe für die, Menschen, die in diesen Gesellschaften leben müssen und entwerten damit nicht nur das Leben sondern auch die menschliche Vorstellungskraft.

Die irische Geschichte und Politik bilden dieses Labyrinth, und die verkalkten Institutionen ein anderes, und von diesen beiden befreit er sich durch seine Flucht. Es ist die Kunst, die ihm die Flügel und kreativen Freiheiten schenkt. Dies führt zu seiner endgültigen Erkenntnis, dass sein Lebensinhalt ist:

„Leben, irren, fallen, triumphieren, Leben aus dem Leben neu erschaffen!“

– ein humanistisches und zugleich ästhetisches Manifest.

Im Roman verfeinerte und vervollkommnete Joyce die Technik des zentralen Bewusstseins, um Dedalus‘ Subjektivität der äußeren objektiven Realität gegenüberzustellen. Es ist eine subtile Methode, da es ihm hiermit gelingt, den Leser in den Kopf des Protagonisten zu versetzen, so dass die Intimität zwischen den beiden unauffällig wächst. Diese Intimität lässt uns Dedalus Isolation und Entfremdung von innen erfahren. Wir spüren sein akutes Gefühl der Entbehrung,  nämlich dass die zentralen Institutionen –  politische, religiöse und auch kulturelle – seine kreative Entwicklung ersticken. Er erkennt intuitiv, dass ästhetisches Bewusstsein für einen Künstler kaum von moralischen Werten zu trennen ist.

Joyce entlehnt der Religion den Begriff der Epiphanie, den er als

„eine plötzliche spirituelle Manifestation, ob in der Vulgarität der Rede oder der Geste oder in einer denkwürdigen Phase des Geistes selbst“

beschreibt. In einer Szene des Romans erlebt Dedalus die Epiphanie, die ihn von seiner künstlerischen Berufung überzeugt.

Was ein einfaches Bild war, konnte für ihn zu einem Anblick werden, der ihn erhebt und in eine höhere Sphäre der Spiritualität versetzt, die Joyce und seine Modernisten immer als den wesentlichen Zweck der Kunst erkannt hatten. Es ist die Entdeckung dieser künstlerischen Absicht, die es Dedalus erlaubt, den engen Normen des Nationalismus und der Religion zu entgehen.

Institutionen, die den Verstand, das Herz und die Seele fesseln und Angst und Einschüchterung als Mittel einsetzen, um Konformität durchzusetzen, das ist es, wogegen sich Dedalus als Künstler einsetzen muss. Obwohl im Jahr 1916 veröffentlicht, untersucht Joyce bereits eine der zentralen und Fragen der postkolonialen Literatur:

Um zu der Lampe zurückzukehren, sagte er, die Füllung sei auch ein kleines Problem. Sie müssen ein reines Öl nehmen, und Sie müssen vorsichtig sein, wenn Sie es hineingießen, um es nicht zu überfüllen, und mehr hineingeben, als der Trichter fassen kann.

Welcher Trichter? fragte Stephen.

Der Trichter, durch den Sie das Öl in Ihre Lampe gießen.

Das? sagte Stephen. Wird das ein Trichter genannt? Ist es kein Tundish?

Was ist ein Tundish?

Das. Der Trichter.

Wird das in Irland ein Tundish genannt? fragte der Dekan. Ich habe nie das Wort in meinem Leben gehört.

Es heißt Tundish in Lower Drumcondra, sagte Stephen lachend, wo sie das beste Englisch sprechen.

Ein Tundish, sagte der Dekan nachdenklich. Das ist ein sehr interessantes Wort. Ich muss dieses Wort nachschlagen. Auf mein Wort, das muss ich.

Der Dekan wiederholte das Wort noch einmal.

Tundish! Nun, das ist interessant!

Die Frage, die du mir vorhin gestellt hast, scheint mir interessanter zu sein. Was ist diese Schönheit, die der Künstler aus Klumpen von Ton zu erschaffen versucht, sagte Stephen kalt.

Das kleine Wort schien seine Feinfühligkeit gegen diesen höflichen und wachsamen Feind geweckt zu haben. Er fühlte dass der Mann, mit dem er sprach, ein Landsmann von Ben Jonson war. Er dachte:

Die Sprache, in der wir sprechen, ist seine, bevor sie mir gehört. Wie anders sind die Worte zu Hause, Christus, Bier, Meister, auf seinen Lippen und auf meinen! Ich kann diese Worte nicht ohne Unruhe sprechen oder schreiben. Seine ihm so vertraute und mir so fremde Sprache wird für mich immer eine erworbene Sprache sein. Ich habe seine Worte weder geschaffen noch akzeptiert. Meine Seele steht im Schatten seiner Sprache.

Als ein kolonialisierter „anderer“ erkennt Dedalus die Wahrheit, dass das Beherrschen einer Sprache irrelevant ist; Wichtiger ist, damit geboren zu sein. Die bittere Erkenntnis, dass er immer im Schatten der Sprache dieses Dekans verharren wird, obwohl seine irischen Landsleute den Saft seiner Zunge mit ihrer Seele und ihrem Intellekt wiederbelebt haben, bringt ihre eigene Angst mit sich. Dedalus erkennt, dass er trotz seiner Beherrschung der englischen Sprache immer als Außenseiter betrachtet werden würde – oder im besten Fall als exotisches, wunderbares Tier wie Caliban, den Prospero gnädig seine Muttersprache gelehrt hatte.

Für Joyce sind soziale Konventionen und tyrannische religiöse Institutionen Konstrukte von bigotten Geistern, die entwickelt wurden, um Selbsterniedrigung und Schuldgefühle beim Menschen hervorzurufen. Seine Kunst verwandelt sich in einen neuen Zeitgeist, der zu einer modernen Sensibilität führt. In der Lebensvision der Joyceaner dient die Kunst einem erlösenden Zweck, und Irrtümer und Fehler werden zu kreativen menschlichen Taten.

Da Dedalus auch profane Rebellion als Mittel der Selbstverwirklichung akzeptiert, spornt ihn ein tiefes Gefühl der Freude und Befreiung zu einer reicheren, volleren Existenz und einer Bestätigung des Lebens an:

Willkommen, O Leben! Ich gehe zum millionsten Mal der Realität der Erfahrung entgegen und schmiede in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffene Gewissen meiner Gattung. „

Und durch diese leidenschaftliche Aussage behauptet Joyce selbst nach einem Jahrhundert seine Relevanz für die moderne Kunst und Kultur.

Was der SPIEGEL 1960 zu Stanislaus Joyce zu sagen hatte, lesen Sie hier

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Abbildung: wiki commons